Ukraine-Update: Die Entwicklungen aus der Nacht

Selenskyj sieht die Standhaftigkeit im Krieg als Grund für einen raschen EU-Beitritt. Laut Moskau ist die Stadt Swjatohirsk praktisch eingenommen. Ein Überblick.

Wolodymyr Selenskyj (li.) will mit seinem Land rasch der EU beitreten.
Wolodymyr Selenskyj (li.) will mit seinem Land rasch der EU beitreten.dpa/Ukrainian Presidentia

Kiew-Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat angesichts von mehr als 100 Tagen tapferem Kampf gegen die russische Invasion mit Nachdruck den Status als EU-Beitrittskandidat verlangt.

„Ich meine, das wird nicht nur eine Entscheidung für die Ukraine, sondern für das gesamte europäische Projekt sein“, sagte das Staatsoberhaupt in seiner täglichen Videobotschaft. Das werde auch darüber entscheiden, ob die EU eine Zukunft habe oder nicht, meinte Selenskyj.

Scholz: Keine Abkürzungen für die Ukraine auf dem Weg in die EU

Die EU-Kommission will noch im Juni entscheiden, wie es mit den EU-Ambitionen des von Russland angegriffenen Landes weitergeht. Die Bundesregierung hat sich zu dieser Frage noch nicht positioniert. Kanzler Olaf Scholz (SPD) hat aber klar gemacht, dass es keine Abkürzungen für die Ukraine auf dem Weg in die EU geben dürfe. Die Ukraine, die vor allem auch mit massiver Korruption zu tun hat, sieht ihren Kampf gegen Russland als ausreichende Qualifikation.

Derweil gehen die Kämpfe in der Ukraine weiter. „Am 103. Tag hält der ukrainische Donbass kräftig stand“, sagte Selenskyj im Hinblick auf die Situation im Osten des Landes. Es werde zudem alles dafür getan, dass die Front in den Gebieten Saporischschja und Mykolajiw standhalte. Schwere Kämpfe gebe es weiter um Sjewjerodonezk, Lyssytschansk, Slowjansk, Bachmut, Swjatohirsk, Awdijiwka, Kurachowe sowie in den Gebieten Luhansk und Donezk. Dabei müssen die Streitkräfte schwere Verluste hinnehmen.

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Moskau: Swjatohirsk praktisch eingenommen

Das russische Militär und die von Moskau unterstützten Separatisten schließen die Einnahme der ukrainischen Stadt Swjatohirsk (Swjatogorsk) mit ihrem historischen Kloster nach eigenen Angaben nun ab. „Swjatogorsk ist praktisch befreit“, sagte der Anführer der Separatistenregion Donezk, Denis Puschilin, im russischen Staatsfernsehen. Dort liegt das zuletzt auch beschossene Erzkloster Mariä-Entschlafung, das zu den wichtigsten Heiligtümern der russischen Orthodoxie gehört.

Der Moskauer Patriarch Kirill, der den Angriffskrieg gegen die Ukraine unterstützt, steht seit langem im Ruf, die alten religiösen Stätten in der Ukraine für die russisch-orthodoxe Kirche unter seinem Einfluss halten zu wollen. Der Sprecher des russischen Verteidigungsministeriums, Igor Konaschenkow, hatte zuvor erklärt, dass die Eroberung der Stadt in den letzten Zügen sei. Die letzten Soldaten der ukrainischen Streitkräfte hätten die Militärtechnik und Waffen zurückgelassen und seien selbst geflüchtet. Nach Darstellung Konaschenkows überquerten rund 80 ukrainische Soldaten den Fluss der Stadt, die russische Seite habe sie fliehen lassen und nicht das Feuer eröffnet, sagte er.

Eine Bestätigung von ukrainischer Seite, dass Swjatohirsk aufgegeben sei, gab es zunächst nicht. Allerdings hatte der ukrainische Generalstab am Montagmorgen über schwere Kämpfe im Donezker Gebiet um die Stadt berichtet. Die Ukraine fordert seit Wochen vom Westen die Lieferung schwerer Waffen, um die russischen Streitkräfte nicht nur aufzuhalten und zurückzudrängen, sondern auch, um besetzte Orte zu befreien.

USA wirft Russland Getreide-Diebstahl vor

US-Außenminister Antony Blinken hat den Verdacht geäußert, dass Russland ukrainisches Getreide für den eigenen Profit stiehlt. Berichte, wonach Russland ukrainisches Getreide beschlagnahmt, um dieses selbst zu verkaufen, nannte Blinken am Montag in Washington „glaubwürdig“. Er erhob außerdem den Vorwurf, dass Moskau durch die Blockade ukrainischer Getreideausfuhren die Welt „erpressen“ wolle.

Die russische Seeblockade des südukrainischen Hafens Odessa verhindere, dass Getreide von dort an seine „normalen Ziele“ verschifft werde, sagte Blinken bei einer virtuellem Konferenz seines Ministeriums zu aus dem Ukraine-Krieg entstehenden Risiken für die Nahrungsmittelsicherheit. Rund 20 Millionen Tonnen Weizen seien in Silos nahe Odessa „gefangen“.

Dabei handle es sich um eine Strategie des russischen Präsidenten Wladimir Putin, der erzwingen wolle, dass die restliche Welt „ihm nachgibt“ und ihre Sanktionen gegen Russland aufhebt, betonte Blinken. „In anderen Worten, ganz einfach ausgedrückt, es ist Erpressung“, so Blinken.

Debatte über Panzerlieferungen aus Spanien

Spanien etwa will Kampfpanzer deutscher Bauart an die Ukraine liefern. Die Union im Bundestag warnte die Bundesregierung davor, Spanien daran zu hindern. „Wenn Spanien Leopard 2 liefern will, muss die Bundesregierung das schnell ermöglichen“, verlangte der stellvertretende CDU/CSU-Fraktionschef Johann Wadephul (CDU) in der Augsburger Allgemeinen. „Deutschland lässt die Ukraine jeden Tag, an dem dort keine schweren Waffen ankommen, im Stich.“

Ähnlich äußerte sich der CDU-Außenpolitiker Roderich Kiesewetter in der Süddeutschen Zeitung: „Ich erwarte, dass die Bundesregierung rasch, möglichst proaktiv, die dafür notwendige Ausfuhrgenehmigung erteilt.“

Die gewöhnlich sehr gut informierte spanische Zeitung El País hatte unter Berufung auf Quellen im Verteidigungsministerium berichtet, Spanien bereite die Lieferung von etwa 40 Kampfpanzern des Typs Leopard 2 A4 und von bodengestützten Luftabwehrraketen vor. Ministerin Margarita Robles wollte dies aber weder bestätigen noch dementieren. Dies sei ein „extrem delikates Thema“ und bedürfe „größter Diskretion“.

Massive Kämpfe im Donbass

Der ukrainische Armeesprecher Olexander Motusjanyk berichtete von intensiven Kämpfen „praktisch entlang der gesamten Frontlinie in den Gebieten Luhansk und Donezk“. Die russische Luftwaffe habe 39 Einsätze für Luftschläge auch außerhalb der Ostukraine geflogen. Am bedrohlichsten sei die Situation jedoch im Gebiet Saporischschja, in dem die russische Armee die Gebietshauptstadt bedrohe, hieß es. Präsident Selenskyj hatte die Region am Sonntag besucht und sich auch unmittelbar an der Front aufgehalten.

Im Kampf um die strategisch wichtige Stadt Sjewjerodonezk in der Ostukraine erscheint die Lage der ukrainischen Kräfte zunehmend schwierig. Der Bürgermeister der Stadt, Oleksandr Striuk, erklärte am Montag, die Lage ändere sich „stündlich“. Es gebe „intensive Straßenkämpfe“, die russischen Truppen setzten zudem „Luftschläge und schwere Artillerie ein“. Die Angreifer „sind dabei, die Stadt zu zerstören“ nachdem „sie es nicht geschafft haben, sie in ein oder zwei Tagen einzunehmen“.

Striuk zufolge ist die Evakuierung der verbliebenen Zivilisten wegen der dauernden Angriffe „fast unmöglich“. „Wir halten durch, aber sie sind mehr, und sie sind stärker“, sagte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj am Montag vor Journalisten in Kiew.

Was am Dienstag wichtig wird

Kulturstaatsministerin Claudia Roth (Grüne) traf am Montagnachmittag zu einem zweitägigen Besuch in der ukrainischen Hafenstadt Odessa ein. Sie reiste auf Einladung ihres ukrainischen Amtskollegen ans Schwarze Meer. „Wir wollen zeigen, dass wir da sind“, sagte die Grünen-Politikerin zum Auftakt der Reise, „wir wollen zeigen, wie die Kultur angegriffen wird“, meinte sie vor dem Haupttag der Reise am Dienstag. Humanitäre Hilfsangebote kämen in den Debatten noch zu selten vor.

Erstmals seit Beginn des Ukraine-Kriegs besucht Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) am Dienstag mit Litauen ein Nato-Land, das an Russland grenzt und sich durch die Atommacht besonders stark bedroht fühlt. In der Hauptstadt Vilnius wird er neben Nauseda die Regierungschefs aller drei baltischen Staaten treffen - neben Litauen gehören noch Lettland und Estland dazu. Anschließend besucht der Kanzler die Bundeswehrsoldaten, die in Litauen zur Sicherung der Nato-Ostflanke stationiert sind.