Mitten im Krieg: Ukrainer machen Strand-Urlaub in Kiew

Die Ukrainer verbringen die Ferien beispielsweise am Strand des Dnepr in Kiew. Touristen kommen kaum.

Ukrainerinnen am am Sandstrand des Flusses Dnepr.
Ukrainerinnen am am Sandstrand des Flusses Dnepr.AP/Natacha Pisarenko

Familie Suchanow träumte von einem Urlaub in Ägypten. „Wir wollten den Kindern die Pyramiden zeigen“, sagt Iwan Suchanow. „Aber der Krieg hat unsere Pläne durchkreuzt.“ Statt am Roten Meer breiten die Suchanows nun ihre Handtücher am Sandstrand des Flusses Dnepr aus, mitten in der ukrainischen Hauptstadt. „Dieses Jahr genießen wir die Umgebung von Kiew, die Seen, die Parks“, sagt der 41 Jahre alte Familienvater. „Wir entspannen uns, so gut wir können.“

Normalerweise sind die Strände des Dnepr in den Sommermonaten überfüllt. Nun ist trotz Temperaturen von 30 Grad reichlich Platz für jeden. Das Leben in der Hauptstadt Kiew verläuft noch immer in Zeitlupe, obwohl sich die russischen Truppen vor drei Monaten aus den Vororten zurückgezogen haben, um ihre Offensive auf die Donbass-Region zu konzentrieren. Verglichen mit den Bombardements und Gefechten im Osten und Süden des Landes ist es in Kiew derzeit relativ ruhig.

Ukraine- Krieg im Sommer: Vom Strand in den Luftschutzkeller

Aber die Angst, dass wieder Schlimmeres passieren könnte, beherrscht den Alltag. Immer noch ertönen regelmäßig die Sirenen, von 23 Uhr bis fünf Uhr morgens gilt eine Ausgangssperre. Und auch die Sandsäcke vor öffentlichen Gebäuden und Denkmälern erinnern daran, dass Krieg herrscht. Am 26. Juni schlug eine Rakete nahe dem Zentrum ein und tötete einen Menschen.

„Wir gewöhnen uns an das Leben im Krieg“, sagt Suchanow. „Bei Luftalarm gehen wir nicht in die Schutzräume, wir befolgen auch die Sicherheitsvorschriften nicht mehr. Wir leben so gut es geht und hoffen, dass alles gut wird.“

Auch Vera Sapyga versucht, den Sommertag am Stadtstrand zu genießen. Doch die Unruhe lässt die 37-Jährige nicht los. „Ich mache mir große Sorgen wegen der Sirenen und der Nachrichten. Jeden Tag muss ich weinen. So viel Stress habe ich noch nie erlebt“, sagt sie.

Sapyga ist vor einer Woche nach Kiew zurückgekehrt, nachdem sie am ersten Tag der Invasion mit ihrer fünfjährigen Tochter in ein Dorf in der Westukraine geflohen war. Sie kann es kaum erwarten, die Hauptstadt wieder zu verlassen. Nächste Woche will Sapyga nach London reisen. Eine Familie dort hat angeboten, Mutter und Kind aufzunehmen. Es ist schon das zweite Mal, dass sie ihre Heimat verlassen muss: 2014 floh sie von der Krim, wo sie mit ihrem Mann lebte, als Moskau die Halbinsel annektierte.

Krieg: Ukrainische Familien können nichts planen

Wie lange Sapyga in London bleiben wird, weiß sie noch nicht. „Es ist sehr schwierig, irgendetwas zu planen“, sagt sie. Dieser Satz ist derzeit in Kiew ständig zu hören. Niemand wagt eine Prognose, wie lange der Krieg noch dauern wird. „Zuerst versicherten uns die Experten, dass der Krieg schnell enden würde“, sagt Ljudmila Jaschtschuk, die mit ihrem Mann in einem der wenigen geöffneten Strandcafés sitzt. „Dann sagten sie: ‚Er wird bis zum Tag der Verfassung am 28. Juni vorbei sein‘, dann bis zum Unabhängigkeitstag am 24. August. Jetzt sagen sie nichts mehr.“

„Man hofft, dass der Krieg bis Ende des Jahres vorbei sein wird, aber jetzt reden alle von einem langen Konflikt“, sagt Familienvater Suchanow. In der Stadt kursieren Gerüchte über eine neue russische Offensive auf Kiew. Doch kaum jemand zweifelt daran, dass die Ukraine am Ende siegen wird. „Moralisch haben wir bereits gewonnen“, sagt Suchanow. „Jetzt müssen wir es nur noch auf dem Schlachtfeld.“