Ukraine-Krieg: Mitglieder des Willy-Brandt-Kreises unterschreiben Friedensappell
Einige Mitglieder des Willy-Brandt-Kreises haben einen Friedensappell unterschrieben. Unter den Autoren: die ehemalige Entwicklungsministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul.

Peter Brandt, Ute Finkh-Krämer, Rainer Land, Götz Neuneck, Paul Schäfer, Hans Misselwitz, Heidemarie Wieczorek-Zeul, Mitglieder des Willy-Brandt-Kreises, warnen vor einer Eskalation des russischen Angriffskriegs in der Ukraine und haben einen Friedensappell unterzeichnet. Wir veröffentlichen den Friedensappell ungekürzt. Die Redaktion.
Erklärung von Mitgliedern des Willy-Brandt-Kreises, 15. Februar 2023
Eine weitere Eskalation verhindern, Verhandlungslösungen ausloten!
Der erste Jahrestag des völkerrechtswidrigen Angriffs der russischen Armee auf die souveräne Ukraine, der unprovoziert am 24. Februar 2022 begonnen wurde, rückt näher und lässt eine weitere Eskalation befürchten. Der Krieg wird mit ungehinderter Brutalität fortgesetzt. Städte und Hunderte von Dörfern insbesondere in der Südukraine sind zerstört, Zehntausende Soldaten und Zivilisten sind tot. Wichtige Teile der Infrastruktur in der Ukraine wurden durch die massiven Angriffe der russischen Streitkräfte zerstört. Die hohe Zahl von zivilen und militärischen Opfern erschwert eine verhandelte Lösung, die mit Recht und hoher Dringlichkeit auch immer wieder von der Zivilgesellschaft gefordert wird.
Substanzielle Verhandlungen zwischen den Kriegsparteien – bilateral oder vermittelt und moderiert von der internationalen Gemeinschaft – sind nicht in Sicht. Zwar werden im Hintergrund insbesondere zwischen den USA und Russland mögliche diplomatische Lösungen ausgelotet, aber sie haben zu keinem Ergebnis oder zumindest keinem gangbaren Plan für einen robusten Friedensschluss geführt. Im Gegenteil, die schleichende Eskalation zwischen Russland, den USA und dem Westen, insbesondere den Nato-Staaten, schreitet voran. Zum Jahrestag der Invasion wird von Russland eine neue Frühjahrsoffensive erwartet. Die Debatte in Deutschland konzentriert sich auf koordinierte Waffenlieferungen, die allerdings begrenzt sind und zuallererst das Selbstverteidigungsrecht der Ukraine stärken sollen.
Der in der öffentlichen Diskussion dominierende Druck für weitere, umfassende Waffenlieferungen (weitere Panzer, Kampfflugzeuge) erfolgt mit dem Argument, die Ukraine müsse „siegen“, also Russland vom Territorium der Ukraine vertreiben. Ob ein solcher „Sieg“ realistisch wäre und zu einem Ende der Raketen- und Drohnenangriffe auf die ukrainische Infrastruktur führen würde, wird kaum diskutiert. Damit droht ein weiter eskalierender Krieg unabsehbarer Dauer, der nicht nur unter den Soldaten beider Kriegsparteien, sondern auch unter der ukrainischen Zivilbevölkerung unermessliche weitere Opfer fordern würde.
US-Thinktanks haben aus US-amerikanischer Sicht dargelegt, welche Gründe dafürsprechen, möglichst bald den heißen Krieg auf dem Verhandlungsweg zu beenden. Es gibt eine geringe Wahrscheinlichkeit für einen ukrainischen „Sieg“ im Sinne der Rückeroberung des gesamten annektierten Territoriums. Eskalationsrisiken bis hin zum versehentlichen oder absichtlichen Einsatz von Nuklearwaffen bleiben akut.
Dringend notwendig und überfällig ist daher auch in Deutschland eine Debatte zu einer möglichen Verhandlungslösung, z.B. unter Vermittlung des UN-Generalsekretärs. Stattdessen fordern manche in Deutschland schon eine „Kriegswirtschaft“ in unserem Land. Das ist aus mehreren Gründen: eine fatale Forderung. Sie erweckt die Assoziation an den Zweiten Weltkrieg. Sie verlangt den Umbau der Volkswirtschaft durch eine umfassende Mobilisierung ökonomischer Ressourcen zur Sicherung der materiellen Versorgung der Armee, um Kriegsziele zu erreichen mit drastischen Folgen für Wirtschaft und Gesellschaft. Sie vermittelt den Eindruck, dass Deutschland eine Kriegspartei sei.
Um einen robusten Friedensschluss zu erreichen, müssen die Kriegsziele der unmittelbar Beteiligten in den Blick genommen werden. Russland will weiterhin das Territorium der Ukraine kontrollieren und usurpieren, die Ukraine das ihr gehörende Land einschließlich der Krim zurückgewinnen. Heute werden in erster Linie sehr unterschiedliche militärische Szenarien diskutiert. Insbesondere einige US-Militärs plädieren dafür, dass die Ukraine versuchen soll, die Verbindung zur Krim zu unterbrechen und das russische Militär durch eine Offensive zur Aufgabe zu zwingen. Dieses Szenario ist auch mit weiteren westlichen Waffenlieferungen sehr unwahrscheinlich, birgt aber ein hohes Eskalationspotenzial. Ein weiteres Szenario ist ein fortgesetzter Abnutzungskrieg mit nur leichten Frontverschiebungen. Dieses Szenario ist wahrscheinlicher, da Russland die Möglichkeit hat, weiteres Material und Personal zu mobilisieren. In jedem Fall wächst die Gefahr, dass die Nato in den Krieg hineingezogen wird, je länger der Krieg dauert. Auch ein Einsatz von Atomwaffen Russlands durch militärische Fehleinschätzungen oder als bewusster Eskalationsschritt durch Russland ist nicht ausgeschlossen.
Ein vorläufiger Waffenstillstand gäbe die Möglichkeit für weitere Verhandlungen unter dem Dach der Vereinten Nationen, um einen robusten und gerechten Frieden zu erreichen. Dazu gehört, dass Russland seinen Angriffskrieg beendet und die russischen Streitkräfte zurückgezogen werden. Mittelfristig müssen Sicherheitsgarantien festgelegt und die Allianzzugehörigkeit der Ukraine geklärt werden. Ein Wiederaufbauprogramm für die Ukraine, finanziert durch die Europäische Union und die USA, gäbe dem Land zudem eine neue Perspektive. Außerdem müssen die USA und Russland wieder an den Verhandlungstisch zur Stabilisierung der nuklearen Rüstungskontrolle zurückkehren. Es wäre ein eminent wichtiges Zeichen, wenn beide Nuklearmächte zeitnah an den Verhandlungstisch zurückkehren und sich politisch dazu verpflichten, die im New START-Vertrag festgelegten Beschränkungen über das Vertragsende 2026 hinaus einzuhalten und wieder mit den Inspektionen fortfahren, bis der dringend notwendige Folgevertrag verhandelt und ratifiziert ist.
Peter Brandt, Ute Finkh-Krämer, Rainer Land, Götz Neuneck, Paul Schäfer, Hans Misselwitz, Heidemarie Wieczorek-Zeul

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