Der Berliner Regisseur und Theaterleiter Jürgen Flimm ist tot

Bei Jürgen Flimm liefen die Fäden des Kulturbetriebs zusammen. Er war ein wirkungssicherer Regisseur und ein gesegneter Patriarch. Nun ist der frühere Intendant der Berliner Staatsoper gestorben.

Jürgen Flimm leitete als Intendant unter anderem das Schauspiel Köln, die Salzburger Festspiele und bis 2018 die Staatsoper Unter den Linden.
Jürgen Flimm leitete als Intendant unter anderem das Schauspiel Köln, die Salzburger Festspiele und bis 2018 die Staatsoper Unter den Linden.Emily Wabitsch/dpa

Jürgen Flimm verfügte über ein solides Selbstbewusstsein. Was er auch anfasste, es hatte zu gelingen. Es fand sich nichts, was er als eine Nummer zu groß empfunden hätte. Am Sonnabend ist er, wie die Berliner Staatsoper mitteilt, im Alter von 81 Jahren gestorben. Jürgen Flimm und sein Vorbild werden fehlen, sein Mut im Umgang mit der Macht, seine Wachheit und Offenheit bei der Pflege von Kontakten, seine Hartnäckigkeit im Gegenwind – und dass er bei allem seine unerschütterbare gute Laune behielt. Die brauchte er auch.

Berlin hat 2008 gemault, als er zum Intendanten der Staatsoper Unter den Linden erkoren wurde, er hatte sich nach einer legendären Unterredung in einem New Yorker Hotelzimmer mit Daniel Barenboim schnell dazu entschlossen, und schnell hat die Öffentlichkeit davon erfahren. So schnell, dass er noch keine tiefergehenden Pläne für die repräsentativste aller Berliner Bühnen darlegen konnte. Die Gelassenheit wurde ihm als Desinteresse ausgelegt.

Da war jemand, der sich nichts mehr zu beweisen brauchte, der seine künstlerischen Mittel als Regisseur erprobt hatte, der als Intendant das Thalia-Theater in Hamburg zu einer der führenden deutschsprachigen Bühnen gemacht hatte und der als Intendant der Salzburger Festspiele einen Posten erklommen hatte, auf dem man das Geld mit vollen Händen ausgeben konnte, um Stars und Spitzenensembles für das gut betuchte Publikum zu engagieren.

Heitere Stabilität in Zeiten von Baustellen

Und so jemand sollte mit fast 70 Jahren im klammen Berlin die wegen ihrer Sanierung im Schillertheater untergebrachte Staatsoper übernehmen? Die Maulerei wandelte sich schnell in Dankbarkeit, die sich in dieser Stadt durch nichts deutlicher ausdrückt als dadurch, dass nicht gemeckert wird. Also fast. Flimm, der nach den Salzburger Festspielen mit dem Gedanken gespielt hatte, als freier Regisseur in die weite Welt zu gehen oder – was für eine Bandbreite – in die deutsche Kulturpolitik, entschied sich noch einmal für eine kulturelle Institution und führte sie durch eine schwierige Phase, wissend, wo sein Platz an der Seite des mächtigen Generalmusikdirektors war, aber auch, wie er ihn flankieren und für seine eigenen Pläne gewinnen konnte. Die Staatsoper erlebte trotz der nicht abreißenden schlechten Bau- und Finanzierungsnachrichten eine lange, fruchtbare, würdige Phase der Stabilität, sie hat den beiden Großmeistern viel zu verdanken – dem strahlenden und unanfechtbaren Barenboim, aber eben auch dem kompromissbereiten, agilen und nervenstarken Flimm.

Flimms Professionalität und sein Gestaltungswille kommen aus einer Zeit, als man sich des Geniebegriffs noch nicht schämte, in der Durchsetzungsvermögen als Tugend galt und Machtmissbrauch, Transparenz und Arbeitsbedingungen noch keine Dauerthemen waren. Diese Generation von gesegneten Patriarchen nimmt jetzt Abschied, ihre stabile und robuste Art der Amtsführung wird von den demokratieliebenden Nachfolgegenerationen kritisiert.

Das muss so sein, aber mögen die Jüngeren dabei nicht vergessen, von den Alten zu lernen. Flimm war kein diktatorischer Patriarch, sondern einer, der seine Grenzen kannte und den Konsens suchte, einer, der sich mit seiner gewinnenden Art Freunde machte. Er wusste zu streiten, wenn es sich lohnte, und wie man mit Mitstreitern harmonierte, an denen sich andere die Zähne ausbissen. So sorgte er rechtzeitig vor seinem Abschied, in selten vernünftiger und ruhiger Zusammenarbeit mit der Kulturpolitik, für einen reibungslosen Amtswechsel an der Staatsoper, was im eitlen Kulturbetrieb und vor allem in dieser Stadt alles andere als eine Selbstverständlichkeit ist. Allein für diese Konsensleistung im Interessengestrüpp gebührt ihm Respekt.

Finstere Schichten der Menschenseele

Flimm kam im Sommer 1941 in Gießen zur Welt, er war ein Kriegskind und Sohn eines Arztpaares. Nach seinem Studium der Theaterwissenschaften und Soziologie in Köln fing er 1968 als Assistent in den Münchner Kammerspielen an. Da hatte er bereits eine Familie mit fünf Kindern zu versorgen. Kurz danach nahm er die ersten Karrierestufen, wurde Spielleiter im Nationaltheater Mannheim und Oberspielleiter im Hamburger Thalia-Theater, bevor er ein paar Jahre als freier Regisseur in München, Hamburg, Bochum und Frankfurt am Main inszenierte und in Harvard und an der New York University dozierte.

1979 wurde er erstmals Intendant, für eine Amtszeit am Schauspiel Köln, dann ab 1985 am Thalia-Theater in Hamburg, das er aus einer Krise führte, indem er Regisseure mit sehr eigenen und starken Regiehandschriften wie Alexander Lang oder Robert Wilson holte und seine eigenen Arbeiten angstlos der fruchtbaren Konkurrenz aussetzte. Künstlerisch suchte er in den finsteren Schichten der Menschenseele und verließ sich dabei auf sein hochkarätiges, immer wieder zusammenspielendes Ensemble, zu dessen Protagonisten Hans Christian Rudolph, Elisabeth Schwarz, Hildegard Schmahl, Ignaz Kirchner und Christoph Bantzer gehörten.

Seit seinem Operndebüt 1978 widmete sich Jürgen Flimm zunehmend diesem ungleich aufwendigeren Genre – und dies an den größten und wichtigsten Musiktheaterhäusern, die es gibt: der Mailänder Scala, der Metropolitan Opera New York, dem Royal Opera House Covent Garden, an den Staatsopern Berlin und Hamburg. In Bayreuth inszenierte er Wagners „Ring des Nibelungen“, in Salzburg Henry Purcells „King Arthur“, beides mit zwiegespaltenem Echo. Gefeiert wurde er in New York mit Beethovens „Fidelio“, von der New York Times zur besten Opernproduktion des Jahres gekürt.

2002 wurde er Schauspieldirektor und 2006 Intendant der Salzburger Festspiele, die er vor Ende der Vertragslaufzeit verließ, um in Berlin eine Baustelle zu übernehmen. Kurz nach der Schlüsselübergabe der endlich fertig sanierten Staatsoper ist er in den aktiven Ruhestand getreten, hat weiter inszeniert und ist ansprechbar geblieben. Viel Wissen, viele Konfliktlinien und viele Informationen liefen bei ihm zusammen, nun wird mit seiner Todesnachricht ein Ruck der Trauer durch das Netz gehen, das er zeit seines Lebens geknüpft hat. Der Kulturbetrieb trauert um einen Vater.