Karten veröffentlicht: So weit wurde die russische Armee zurückgedrängt

Das russische Verteidigungsministerium zeigte am Sonntag Karten von Truppenbewegungen. Darauf ist zu sehen, bis wohin sich die Streitkräfte zurückgezogen haben.

Ukrainische Soldaten auf Patrouille (Symbolbild). 
Ukrainische Soldaten auf Patrouille (Symbolbild). AP"Andrew Kravchenko

Nach ukrainischen Gegenschlägen haben die russischen Truppen den Großteil des Gebiets Charkiw im Nordosten der Ukraine geräumt. Den am Sonntag vom Verteidigungsministerium in Moskau gezeigten Karten zufolge räumten die russischen Einheiten den Norden des Gebiets an der Grenze zu Russland komplett und zogen sich auf eine Linie hinter die Flüsse Oskil und Siwerskyj Donez zurück.

Kommentiert wurde der Rückzug nicht gesondert. Zuvor war von einer „Umgruppierung“ zur Verstärkung der Einheiten im Donezker Gebiet die Rede. Anfang der Woche hatte die russische Armee noch etwa ein Drittel des Charkiwer Gebiets kontrolliert.

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„Die Befreiung von Ortschaften in den Distrikten Kupjansk und Isjum ist im Gang“, schrieben ukrainische Streitkräfte in einem Lagebericht. Russischen Angaben zufolge flüchteten „Tausende Menschen“ aus der Region Charkiw nach Russland. Im besetzten AKW Saporischschja wurde laut der Betreiberfirma der letzte Reaktor vom Stromnetz getrennt.

Tausende Menschen haben die Grenze nach Russland überquert

„Das war nicht die einfachste Nacht, das war nicht der einfachste Morgen“, sagte der Gouverneur der an die Ukraine grenzenden russischen Region Belgorod, Wjatscheslaw Gladkow, in einer Videobotschaft im Onlinedienst Telegram. In den vergangenen 24 Stunden hätten „Tausende Menschen die Grenze überquert“. Die meisten von ihnen seien „in ihren eigenen Fahrzeugen zu ihren Verwandten“ in Russland gefahren, sagte Gladkow. Aktuell seien 1342 Menschen in 27 provisorischen Unterkünften in der Region untergebracht.

Die russischen Streitkräfte hatten am Samstag den Abzug ihrer Truppen aus bestimmten Gebieten angekündigt. „Um die Ziele des militärischen Sondereinsatzes zur Befreiung des Donbass zu erreichen, wurde beschlossen, die in den Regionen Balaklija und Isjum stationierten russischen Truppen zu verlegen“, erklärte das Verteidigungsministerium in Moskau.

Die ukrainische Armee hatte zu Beginn der Woche eine Gegenoffensive im Gebiet Charkiw begonnen und dabei massive Geländegewinne erzielt. Der ukrainische Generalstab bezifferte diese auf über 3000 Quadratkilometer. Russland hat am 24. Februar einen Angriffskrieg gegen die Ukraine begonnen und hielt zuletzt rund ein Fünftel des Staatsgebietes einschließlich der Halbinsel Krim besetzt.

10.000 russische Soldaten mussten sich hinter den Fluss Oskil zurückziehen

Der Einschätzung der amerikanischen Militärexperten vom Institute for Study of War nach übersteigen die ukrainischen Geländegewinne binnen weniger als einer Woche diejenigen der Russen seit April. „Die Befreiung von Isjum wäre der bedeutendste militärische Erfolg der Ukraine seit dem Sieg in der Schlacht um Kiew im März“, schrieben die Experten am Sonntag.

Der schnelle Vorstoß beweglicher ukrainischer Einheiten zwang die russischen Truppen im Gebiet Charkiw zu einem hastigen Rückzug gen Osten. Ein Verband von rund 10.000 russischen Soldaten musste sich hinter den Fluss Oskil zurückziehen. Der russische Generalstab, der am Samstag erstmals nach Beginn der Gegenoffensive überhaupt Stellung zu den Vorgängen nahm, sprach euphemistisch von einer „Umgruppierung“, um die Kräfte für den weiteren Vormarsch auf den Donbass zu bündeln. Doch zurückgelassene Panzer, Ausrüstung, Waffen und Munition sprechen nicht für einen planmäßigen Abzug.

Ein Wendepunkt im Krieg? Noch immer hält Russland gut ein Fünftel des Staatsgebiets besetzt, einschließlich der Halbinsel Krim. Doch zumindest die Stimmung hat sich gedreht. Für Kiew ist der Vormarsch auch aus Imagegründen wichtig, um weitere Waffenlieferungen aus dem Westen mit realen Ergebnissen rechtfertigen zu können.

Ukrainische Soldaten erbeuten zahlreiche Panzer des Feindes

„Die ukrainischen Soldaten haben Dutzende russischer Panzer erbeutet. Darunter modernste. Vielleicht brauchen wir gar keine Leopard-Panzer mehr?“, fragte der ukrainische Kriegsreporter Andrij Zaplijenko in der allgemeinen Euphorie augenzwinkernd. Und überwältigt von den Bildern und Berichten schrieb sein Kollege Roman Botschkala: „Das ist keine Science-Fiction. Das sind die Streitkräfte der Ukraine.“

Mit Häme wird auch ein alter Clip der Chefin des Staatssenders RT, Margarita Simonjan, präsentiert, die beim TV-Sender Rossija 1 ankündigte: „In einem heißen Krieg besiegen wir die Ukraine in zwei Tagen.“ Am Sonntag zählte man nun den 200. Kriegstag.

In Kiew pendelt die Stimmung zwischen Stolz und Staunen. Das hatten viele Ukrainer ihrer Armee nicht zugetraut. Sonntagsspaziergänger lassen sich vom trüben Wetter nicht abhalten, ausgelassen scherzen die Leute. Kaffeeverkäufer Danylo lobt die ukrainischen Soldaten. „Das sind Prachtkerle“, sagt er mit einem Lächeln. Die Entwicklungen haben bei ihm Hochstimmung ähnlich wie im Frühjahr nach dem Abzug der Russen bei Kiew ausgelöst. „Bis Ende des Jahres klärt sich die Lage“, hofft er und sieht bereits die Krim in greifbarer Nähe.

Experten: Der Krieg ist noch lange nicht vorbei

Der Ausgelassenheit in Kiew steht Trübsal, Verunsicherung und Wut in Russland und bei den Separatisten in Donezk gegenüber. Als ein möglicher neuer Angriffspunkt der Ukrainer gilt die Region um Wuhledar an der westlichen Front des Donezker Gebiets. „Es wird bald geschehen, der Feind ist beflügelt“, prognostiziert der dortige Separatistenkommandeur Alexander Chodakowski. Und stellt die Frage, was die russische Armee dem noch entgegensetzen kann: „Ich werde mit meinen drei Mörsern und den Munitionsresten in den Kampf gehen.“

Der Krieg ist damit noch lange nicht vorbei, warnen Experten. Das Angriffspotenzial Russlands ist weiterhin groß. Doch die Niederlage habe auch massive taktische Defizite der russischen Militärführung und die mangelnde Moral der russischen Kämpfer aufgezeigt.

Der Ärger über die militärische Führung ist gerade im ultrarechten Lager der Kriegsbefürworter gewaltig. Russische Blogger fordern Konsequenzen und Rücktritte. Immer häufiger fällt dabei der Name von Verteidigungsminister Sergej Schoigu, der für die schlechte Vorbereitung der Armee auf den Krieg verantwortlich gemacht wird.

Moskau ignoriert die Niederlage

Und auch die politische Führung in Moskau, die die Niederlage praktisch ignoriert hat, kommt unter Druck. „Gotteslästerlich und wahnsinnig hat heute der Salut in Moskau vor dem Hintergrund der ukrainischen Offensive in Charkiw ausgesehen“, kritisierte etwa ein Blog das große Feuerwerk zum Stadtgeburtstag Moskaus am Samstagabend. Das ausgiebige Feiern angesichts der eigenen Niederlage haben viele Russen als unpassend empfunden.

Symbolträchtig für die Pannenserie der russischen Führung ist eine weitere Episode. Unbeeindruckt vom Kampfgeschehen wurde Präsident Putin scherzend bei der Einweihung verschiedener Anlagen zu Moskaus Stadtgeburtstag im Staatsfernsehen gezeigt. Unter anderem setzte er selbst ein Riesenrad in Bewegung – das höchste in ganz Europa, hieß es. Einen Tag später musste die Anlage wegen eines technischen Schadens erst einmal außer Betrieb genommen werden. Es läuft gerade nicht für den Kremlchef.