Scholz prognostiziert jahrelange Energieknappheit für Deutschland

Deutschland bereitet sich nach den Worten von Bundeskanzler Olaf Scholz unter Hochdruck auf eine Krise bei der Energieversorgung vor.

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Olaf ScholzBundesregierung

Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) geht davon aus, dass Maßnahmen gegen Energieknappheit auch über den kommenden Winter hinaus notwendig sein werden. In einer am Samstag veröffentlichten Videobotschaft sagte der Kanzler: „In diesen Tagen beschäftigt uns die Sicherheit unserer Energieversorgung. Sie wird es noch die nächsten Wochen, Monate und auch Jahre.“

„Wir haben jetzt viele Entscheidungen getroffen, die dazu beitragen sollen, dass wir uns vorbereiten auf Mangellagen“, sagte Scholz weiter. Dies betreffe insbesondere die Gasversorgung. „Wir bauen Pipelines, Flüssiggasterminals“, sagte Scholz. „Wir sorgen dafür, dass eingespeichert wird in unsere Gasspeicher. Und wir sorgen dafür, dass jetzt Kohlekraftwerke genutzt werden, damit wir Gas sparen.“

Scholz: „Tempo, wie es bisher noch nicht in Deutschland gesehen worden ist“

Auf lange Sicht müsse Deutschland sich unabhängig machen vom Import fossiler Energien. Scholz verwies auf die jüngst verabschiedeten Gesetze zum Ausbau der erneuerbaren Energien. Dies geschehe in einem „Tempo, wie es bisher noch nicht in Deutschland gesehen worden ist“, sagte er. „Wir werden es mit diesem Tempo auch schaffen, ein klimaneutrales, wirtschaftlich starkes Industrieland zu sein.“

Es ist nicht die erste Warnung von Scholz in dieser Woche. Am vergangenen Montag hatte er die Bürger bereits auf eine lang anhaltende Krise mit hohen Preisen eingestimmt.

Ähnlich äußerte sich auch Bundesnetzagentur-Chef Klaus Müller. „Auch wenn wir in keine Gasnotlage kommen, bleibt das Gas teuer“, sagte Müller dem Nachrichtenmagazin Focus. Dabei seien die Folgen der aktuellen Gasknappheit preislich bei den Verbrauchern noch gar nicht angekommen. „Das kann für eine Familie schnell eine Mehrbelastung von 2000 bis 3000 Euro im Jahr bedeuten. Da ist die nächste Urlaubsreise oder die neue Waschmaschine dann oft nicht mehr drin.“ Deutschland drohe eine „Gasarmut“.

Warnung vor der „sozialen Zerreißprobe“

Der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), Marcel Fratzscher, warnte vor einer „sozialen Zerreißprobe“. Bewegungen wie die Gelbwesten in Frankreich seien auch in Deutschland möglich, sagte Fratzscher dem Handelsblatt. „Die gegenwärtige Krise könnte der letzte Tropfen sein, der das Fass der zunehmenden sozialen Spaltung zum Überlaufen bringt.“ Der DIW-Chef forderte höhere Löhne und eine dauerhafte Anhebung der Sozialleistungen. Die Politik sollte nicht versuchen, „mit Placebos wie Einmalzahlungen Menschen ruhig zu stellen“.

Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) sprach im Interview mit dem Deutschlandfunk ebenfalls von einer drohenden „Zerreißprobe“. Sollte das „Albtraum-Szenario“ einer Gas-Unterversorgung Realität werden, rechne er mit heftigen Debatten, sagte Habeck. „Das wird Deutschland vor eine Zerreißprobe stellen, die wir lange so nicht hatten“, fügte er hinzu. „Das wird die gesellschaftliche Solidarität bis an die Grenze und wahrscheinlich darüber hinaus strapazieren.“

Linke-Parteichef Martin Schirdewan forderte im Gespräch mit der Funke Mediengruppe eine gezielte Unterstützung einkommensschwacher Haushalte mit einem „sozialen Klimabonus“ von 125 Euro pro Monat plus 50 Euro für jedes weitere Haushaltsmitglied. Außerdem sprach er sich für eine Deckelung der Energiepreise aus, „damit die Leute im nächsten Winter noch heizen und Fernsehen gucken können“. Finanziert werden solle dies durch eine Übergewinnsteuer.

Appellen zum Energiesparen erteilte Schirdewan eine Absage. „Ich rate den Leuten, nicht auf die Verzichtspropaganda hereinzufallen“, sagte er. „Es kann nicht darum gehen, weniger zu heizen oder kälter zu duschen.“

Eindringliche Worte vom Chef der Netzagentur

Netzagentur-Chef Müller erneuerte dagegen mit Blick auf eine drohende Mangellage in Herbst und Winter den Aufruf, Energie und damit Gas zu sparen. „Jede noch so kleine Maßnahme zählt“, sagte er dem Focus. „Ich verstehe, dass da manche jetzt drüber lachen. Wenn sie die nächste Gasrechnung bekommen, wird ihnen das Lachen aber vergehen.“

Sollte die Bundesregierung die dritte und letzte Stufe im Notfallplan Gas ausrufen, agiert die Bundesnetzagentur als Bundeslastverteiler – sie entscheidet also, wer wie viel Gas bekommt. Sogenannte geschützte Kunden, darunter auch private Haushalte, haben dann Vorrang. Viele Unternehmen, etwa in der Industrie, erhalten dann aber möglicherweise kein Gas mehr. „Wer nicht aus Solidarität oder im Sinne des Klimaschutzes Gas sparen will, sollte an die Wettbewerbsfähigkeit unseres Landes denken“, sagte Müller.