Beirut- Bei den verheerenden Explosionen in der libanesischen Hauptstadt Beirut sind nach neuen Angaben vom späten Dienstagabend über 70 Menschen getötet worden, sagte Gesundheitsminister Hassan Hamad. Rund 2750 weitere seien verletzt worden. Der Generalsekretär des libanesischen Roten Kreuzes, Georges Kettaneh, berichtete der Deutschen Presse-Agentur (dpa) ebenfalls von mehr als 2000 Verletzten. Die Krankenhäuser in Beirut waren stark überlastet. Bürger wurden aufgerufen, Blut zu spenden.
Zwei Detonationen ereigneten sich der staatlichen Nachrichtenagentur NNA zufolge in einem Teil des Hafens der libanesischen Hauptstadt, wo in Lagerhäusern Sprengstoff gelagert worden sei. Dies verlautete auch aus Sicherheitskreisen. Sicherheitschef Abbas Ibrahim sagte am Abend, es könnte sich um schon „vor Jahren konfisziertes Sprengmaterial“ gehandelt haben, das in einem Gebäude im Hafen gelagert worden sei. „Es war anscheinend hochexplosives Material“, fügte er vor Journalisten hinzu.
Am Abend gab es Spekulationen, eine große Menge Ammoniumnitrat sei im Hafen explodiert. Die Zersetzung des Stoffs, der auch zur Herstellung von Sprengsätzen dienen kann, führt bei höheren Temperaturen zu Detonationen. Die Substanz dient zum Raketenantrieb und vor allem zur Düngemittelherstellung. Berichten zufolge hatten libanesische Behörden vor einigen Jahren 2700 Tonnen des Stoffs an Bord eines Schiffs sichergestellt und ihn seit mehreren Jahren im Hafen gelagert. Eine Bestätigung dafür gab es zunächst nicht.
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Reuters-Reporter vor Ort berichteten von zerborstenen Fensterscheiben, abgerissenen Balkonen und schreienden Menschen. Über der Stadt war eine Rauchwolke zu sehen. Eine dpa-Reporterin berichtete von einer starken Erschütterung im Stadtzentrum und von großen Schäden. Augenzeugen verbreiteten im Internet Videos, die eine gewaltige Explosion zeigen.
#Beirut another angle. This is horrifying. Can't believe the government says it's just fireworks... pic.twitter.com/01zXPEeX2G
— Gino Raidy 🇱🇧 (@GinoRaidy) August 4, 2020
Die libanesische Armee half dabei, die Verletzten in Krankenhäuser zu bringen. Örtliche Medien zeigten Bilder von Menschen, die unter Trümmern feststeckten. Einige waren blutverschmiert. Die Schnellstraße auf dem Weg zum Hafen war mit Glasscherben übersäht. Ein Polizist sagte, die Schäden erstreckten sich kilometerweit.
Ein Bewohner Beiruts schrieb im Kurzbotschaftendienst Twitter von „bebenden Gebäuden“. Ein anderer meldete: „Beirut wurde gerade von einer gewaltigen, ohrenbetäubenden Explosion verschlungen. Ich habe es in meilenweiter Entfernung gehört.“

Der libanesische Präsident Michel Aoun berief eine Dringlichkeitssitzung des Obersten Verteidigungsrates ein. Die Regierung erklärte den Mittwoch zum Tag der nationalen Trauer. Regierungschef Hasan Diab kündigte an, die Verantwortlichen für die Katastrophe würden „zur Rechenschaft“ gezogen werden und „den Preis bezahlen“. In einer Fernsehansprache bat er zudem alle befreundeten Staaten um Hilfe.
Die EU hat dem Libanon nach der schweren Explosion Beistand in Aussicht gestellt. „Die Europäische Union ist bereit, Hilfe und Unterstützung zu leisten“, teilte EU-Ratspräsident Charles Michel am Dienstagabend mit. Seine Gedanken seien beim libanesischen Volk und den Familien der Opfer.
Auch Bundeskanzlerin Angela Merkel hat sich erschüttert gezeigt. „Unsere Gedanken sind bei denen, die Angehörige verloren haben. Den Verletzten wünschen wir eine schnelle Genesung“, zitierte die stellvertretende Regierungssprecherin Ulrike Demmer am Dienstag die Kanzlerin bei Twitter. „Wir werden dem Libanon unsere Unterstützung anbieten.“

Hinweise auf einen Anschlag oder einen politischen Hintergrund gibt es bislang nicht. Ein israelischer Regierungsvertreter, der anonym bleiben wollte, sagte der Nachrichtenagentur Reuters, Israel habe mit dem Vorfall nichts zu tun. Außenminister Gabi Aschkenasi sagte dem Sender N12, es handle sich höchstwahrscheinlich um einen Unfall, ausgelöst durch einen Brand. Das US-Präsidialamt teilte mit, man verfolge die Entwicklung genau.
Wenige Kilometer vom Ort der Explosion entfernt waren 2005 der damalige libanesische Ministerpräsident Rafik Hariri und 21 weitere Menschen bei einem Sprengstoffanschlag getötet worden. Die Residenz seines Sohnes, des früheren Ministerpräsidenten Saad Hariri, wurde bei der Explosion am Dienstag beschädigt.
An diesem Freitag will das UN-Libanon-Sondertribunal in Den Haag sein Urteil gegen vier Angeklagte in dem Fall von 2005 verkünden. Viele Libanesen machen die Führung des Nachbarlandes Syrien für den Anschlag auf Hariri verantwortlich. Er hatte vor seinem Tod den Abzug der damals im Libanon stationierten syrischen Truppen verlangt.
„Wir haben keine Informationen darüber, was genau passiert ist und was der Auslöser war, ob es ein Unfall oder ein herbeigeführter Akt war“, sagte ein UN-Sprecher in New York nach der Explosion vom Dienstag. „Zu diesem Zeitpunkt sind unsere Gedanken bei den Menschen im Libanon. Was auch immer passiert ist: Wir hoffen, dass der Schaden begrenzt ist und dass die Sicherheit des libanesischen Volkes garantiert ist.“