„Es gibt keine Belege“: Andrij Melnyk wegen Haltung zu Stepan Bandera in der Kritik
Der ukrainische Botschafter Andrij Melnyk irritiert mit umstrittenen Äußerungen zur Figur des ukrainischen Ultranationalisten Stepan Bandera.

Der ukrainische Ultranationalist und Nazi-Kollaborateur Stepan Bandera wird von internationalen Faschismusforschern, darunter Per Anders Rudling und Grzegorz Rossoliński-Liebe, für die Beteiligung seiner Leute an Pogromen gegen die jüdische Zivilbevölkerung als Faschist eingestuft. Der ukrainische Botschafter in Berlin, Andrij Melnyk, nimmt ihn jedoch in Schutz – und gerät dafür in die Kritik.
So hat Melnyk bestritten, dass es Beweise für den Massenmord an Juden durch die Truppen des ukrainischen Nationalistenführers Stepan Bandera gebe. „Bandera war kein Massenmörder von Juden und Polen“, sagte Melnyk in einem Interview mit dem Journalisten und Youtuber Tilo Jung, das am Donnerstagabend veröffentlicht wurde. Das würde er auch immer wieder bestätigen, so Melnyk.
Nur ein Freiheitskämpfer?
Um seine Position zu bekräftigen, verwies der ukrainische Botschafter darauf, dass Bandera, den er als „Freiheitskämpfer“ bezeichnet, knapp eine Woche nach dem deutschen Einmarsch in die Sowjetunion 1941 von den Deutschen verhaftet und ins KZ Sachsenhausen gebracht worden war. Wäre er für die Massenmorde verantwortlich, wäre er später bei den Nürnberger Prozessen verurteilt worden, so der Botschafter. Aber das sei nicht passiert.
Außerdem warf Melnyk deutschen, polnischen und israelischen Historikern vor, bei der Dämonisierung der Figur Bandera durch die Sowjetunion und später durch Russland mitgespielt zu haben. „Ich bin dagegen, dass man all die Verbrechen Bandera in die Schuhe schiebt“, sagte der Botschafter. Andererseits steht für ihn fest: Für die Freiheitskämpfer gebe es keine Gesetze.
Zuvor hatte Jung Melnyk mit einem Zitat eines ukrainischen Flugblatts und Opferzahlen konfrontiert. Es gebe keine Belege, dass Bandera-Truppen (gemeint ist die Organisation Ukrainischer Nationalisten, OUN – Anm. d. Red.) Hunderttausende Juden ermordet hätten, erwiderte Melnyk.
Auch den Vorwurf der Zusammenarbeit mit den Nazis ließ er nicht gelten. „Was heißt kollaboriert? Kollaborateure gab es in ganz Europa – in Frankreich, in Belgien, in jedem Staat“, sagte Melnyk über die Kooperation ukrainischer Nationalisten mit Nazi-Deutschland. Bandera habe lediglich versucht, den Kampf zwischen Nazi-Deutschland und der Sowjetunion für eine ukrainische Unabhängigkeit auszunutzen, bekräftigte Melnyk.
Der ukrainische Botschafter verleugnet einen Teil seiner Geschichte beim Interview mit Tilo Jung. Er spielt den Unwissenden. Was für eine Geschichtsverleugnung. Was für eine Geschichtsverklitterung.
— Igor Levit (@igorpianist) June 30, 2022
Was für eine Heuchelei.
Schämen Sie sich. pic.twitter.com/VGh3QGiimB
„Schämen Sie sich“
Für seine Positionen steht der 46-Jährige in der Kritik. „Der ukrainische Botschafter verleugnet einen Teil seiner Geschichte beim Interview mit Tilo Jung“, schrieb der Pianist Igor Levit auf Twitter. „Er spielt den Unwissenden. Was für eine Geschichtsverleugnung. Was für eine Geschichtsverklitterung. Was für eine Heuchelei. Schämen Sie sich.“
Der Regisseur Thomas Bohn twitterte seinerseits, dass jeder Deutsche für ähnliche öffentliche Äußerungen wie bei Melnyk in Deutschland zu Recht geächtet werden würde.
Jeder deutsche #Politiker, #Sportler, #Künstler, #Journalist, der sich öffentlich so über einen bekannten Faschisten und vermutlichen Massenmörder wie #Bandera geäussert hätte, würde in Deutschland vor Gericht gestellt und -zu Recht- geächtet werden.#Melnyk
— Tom Bohn (@realTomBohn) June 30, 2022
1/2 https://t.co/dl7iI6I8l5
„Ich kann es einfach nicht glauben, was Melnyk da von sich gibt“, schrieb die CDU-Politikerin Margarita Maler. „Er behauptet, dass die Jüdische Gemeinde Berlin und Israel sich das ausgedacht haben, dass Bandera an der Ermordung von Tausenden von Juden mit beteiligt war und bezeichnet ihn als Nationalhelden.“
1/3 Ich kann es einfach nicht glauben, was #Melnyk da von sich gibt.
— Margarita Maler (@RitaYaeli) June 30, 2022
Er behauptet, dass die Jüdische Gemeinde Berlin und Israel sich das ausgedacht haben, dass #Bandera an der Ermordung von Tausenden von #Juden mit beteiligt war und bezeichnet ihn als #Nationalhelden. pic.twitter.com/RCjvwWWTv0
Die Figur des Stepan Bandera
Die Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN) entstand 1929 durch den Zusammenschluss der Ukrainischen Militärischen Organisation (UWO) mit kleineren rechten Gruppen sowie ukrainischen Nationalisten. Während des Zweiten Weltkriegs spaltete sich die OUN 1940 in eine von dem ukrainischen Ultranationalisten Andrij Melnyk geführte Organisation – genannt „Melnykisten“ – und die „Banderisten“ unter Führung von Stepan Bandera.
Die von OUN-Mitgliedern geführten nationalistischen westukrainischen Partisanen führten laut historischen Dokumenten 1943 in Wolhynien ethnisch motivierte Vertreibungen durch. Dabei seien Zehntausende polnische Zivilisten teils bestialisch ermordet worden. In ihren Schriften erklärte die OUN „Juden, Polen und Russen“ zu Feinden. Bandera selbst wurde 1959 in München von einem sowjetischen Agenten ermordet.
In der Ukraine wird besonders seit dem Regierungssturz von 2014 ein Kult um Stepan Bandera und Vertreter der von ihm geführten Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN) betrieben. Er gilt als maßgeblich verantwortlich für die Ideologie des radikalen Flügels der Organisation. Hunderte Straßen wurden in der Ukraine nach Bandera und anderen OUN-Vertretern benannt.