Knapp sieben Monate nach Beginn des Krieges gegen die Ukraine hat Russland eine Teilmobilmachung der eigenen Streitkräfte angeordnet. Er habe diese Entscheidung nach einem Vorschlag des Verteidigungsministeriums getroffen und das Dekret unterschrieben, sagte Kremlchef Wladimir Putin in einer Fernsehansprache am Mittwoch. Damit will er auch Personalprobleme an der Front lösen. Zugleich kündigte Putin an, die „Referenden“ in den besetzten Gebieten der Ukraine über einen Beitritt zu Russland zu unterstützen.
Die Teilmobilmachung bedeutet nach Putins Worten, dass Reservisten eingezogen werden. Sie würden den gleichen Status und die gleiche Bezahlung bekommen wie die jetzigen Vertragssoldaten und auch vor dem Fronteinsatz noch einmal militärisch geschult, versicherte er. Russlands Verteidigungsminister Sergej Schoigu zufolge sollen 300.000 Reservisten gegen die Ukraine mobilisiert werden. Eingesetzt werden sollten bei der von Kremlchef Wladimir Putin angeordneten Teilmobilisierung Reservisten mit Kampferfahrung, sagte Schoigu am Mittwoch im russischen Fernsehen. Insgesamt gebe es 25 Millionen Reservisten in Russland. Sie dürfen nun ihren Wohnort nicht mehr verlassen.
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35 Kilometer Stau an der Grenze zu Finnland
Medienberichten zufolge hat sich an der Grenze zu Finnland ein 35 Kilometer langer Stau gebildet. Viele Russen versuchen demnach aktuell ihr Land zu verlassen. Es ist die einzige Grenze, die für russische Touristen mit Schengen-Visa noch geöffnet ist: Erst vor zwei Tagen hatten die baltischen Staaten die Einreise von Russen gestoppt.
Russen im wehrpflichtigen Alter müssen nun mit bis zu zehn Jahren Haft rechnen, wenn sie die Teilnahme an Kampfhandlungen verweigern. Eine entsprechende Gesetzesänderung verabschiedete am Mittwoch der Föderationsrat in Moskau, wie Staatsagenturen meldeten.
#Breaking: just in - The traffic jam at the border with #Russia/#Finland has pilled up to 35KM and is rising by the hour, it is the only border who is still open for Russian civilians with shengen visas, after #Putin announced he will send 300.000 new troops to #Ukraine. pic.twitter.com/EOJ1346qDO
— Sotiri Dimpinoudis (@sotiridi) September 21, 2022
Flüge von Moskau nach Istanbul und Eriwan ausverkauft
Laut der Nachrichtenagentur Reuters zeigen Google-Trends derzeit einen sprunghaften Anstieg der Suchanfragen für Aviasales, die beliebteste russische Website für den Kauf von Flügen. Direktflüge von Moskau nach Istanbul in der Türkei und Eriwan in Armenien, beides Ziele, die Russen die visafreie Einreise ermöglichen, waren laut dem Bericht am Mittwoch ausverkauft.
Einige Strecken mit Zwischenstopps, darunter die von Moskau nach Tiflis, waren ebenfalls nicht verfügbar, während die billigsten Flüge von der Hauptstadt nach Dubai mehr als 300.000 Rubel kosteten – etwa das Fünffache des durchschnittlichen Monatslohns.
Mobilmachung schränkt Reisefreiheit der Russen ein
Nach dem Befehl zur Teilmobilmachung müssen sich Russen im wehrpflichtigen Alter laut Gesetz an ihrem Wohnort aufhalten. „Bürgern, die (als Reservisten) im Militärregister erfasst sind, ist ab dem Moment der Mobilisierung das Verlassen des Wohnorts ohne Genehmigung der Militärkommissariate und der für Reserven zuständigen Exekutivorgane verboten“, heißt es in dem seit Mittwoch wieder aktuellen Gesetz „Über die Mobilmachung in Russland“.
Laut dem Leiter des Verteidigungsausschusses in der Duma, Andrej Kartapolow, betrifft die Einschränkung der Reisefreiheit vor allem Auslandsurlaube. „Sie können weiter ruhig auf Dienstreise nach Krasnodar oder Omsk fahren, aber ich würde Ihnen nicht raten, in türkische Kurorte zu fahren – erholen Sie sich lieber in den Badeorten der Krim und des Gebiets Krasnodar“, sagte der Abgeordnete am Mittwoch.
Russian Railways und die Airline Aeroflot sollen außerdem laut einem Bericht von NTV keine Bahn- oder Flugtickets mehr an Männer zwischen 18 und 65 Jahren verkaufen. Zuvor hatten beide Unternehmen versichert, es gebe keine Beschränkungen für den Verkauf von Tickets.
Flights departing Moscow and St. Petersburg today. The @AP is reporting international flights departing Russia have either sold out or skyrocketed in price after Putin announced a mobilization of reservists.
— Flightradar24 (@flightradar24) September 21, 2022
Search SVO, VKO, DME for Moscow airports and LED for St. Petersburg. pic.twitter.com/LV2PrkwPD9
Russische Opposition ruft zu Protesten gegen die Mobilmachung auf
„Tausende russische Männer – unsere Väter, Brüder und Ehemänner – werden in den Fleischwolf des Krieges geworfen“, teilt die Antikriegsbewegung Wesna laut einem Bericht von NTV mit. Sie appelliert an die Russen, ab 19 Uhr in den großen Städten aus Protest gegen die Mobilmachung auf die Straßen zu gehen.
In einer Videobotschaft aus dem Gefängnis sagt Putin-Kritiker Alexej Nawalny: „Es ist klar, dass dieser kriminelle Krieg schlimmer wird, intensiver, und Putin versucht, so viele wie nur irgend möglich hineinzuziehen.“
Putin erwähnte auch Atomwaffen
Die von Moskau anerkannten „Volksrepubliken“ Luhansk und Donezk im Osten der Ukraine sowie die russisch besetzten Gebiete Cherson und Saporischschja wollen noch in dieser Woche in umstrittenen Verfahren über einen Beitritt zur Russischen Föderation abstimmen lassen. Das teilten die Regionen am Dienstag mit. Die Scheinreferenden, die weder von der Ukraine noch von der internationalen Gemeinschaft anerkannt werden, sollen demnach vom 23. bis 27. September abgehalten werden. Sie gelten als Reaktion auf die aktuelle ukrainische Gegenoffensive im Osten des Landes.
Auf ähnliche Weise hatte Russland bereits 2014 die ukrainische Schwarzmeer-Halbinsel Krim annektiert. International wurde die Abstimmung jedoch nie anerkannt und auch im Fall der im Februar dieses Jahres besetzten süd- und ostukrainischen Gebiete grenzte sich der Westen bereits deutlich von den russischen Plänen ab. Moskau hatte jedoch stets betont, sich durch Strafmaßnahmen der EU und der USA nicht von seinen Zielen in der Ukraine abbringen zu lassen.
In seiner Ansprache an die Nation griff Putin nun auch den Westen scharf an, der neben Sanktionen gegen Russland auch die ukrainische Führung Wolodymyr Selenskyjs in Kiew finanziell und militärisch unterstützt. Russland werde weiter alle Mittel einsetzen, um seine territoriale Unversehrtheit zu schützen, sagte Putin. Er erwähnte auch die Atomwaffen. Putin hat das strategische Nukleararsenal bereits in erhöhte Bereitschaft versetzen lassen zur Abschreckung für die Nato, sich in der Ukraine einzumischen.
Kiew reagiert mit Spott auf Moskaus Teilmobilmachung
Kiew hat mit Spott auf die angeordnete Teilmobilmachung reagiert. Der externe Berater des ukrainischen Präsidentenbüros, Mychajlo Podoljak, fragte am Mittwoch auf Twitter: „Läuft immer noch alles nach Plan oder doch nicht?“ Der für „drei Tage“ geplante Krieg dauere bereits 210 Tage. Die Russen, die eine Vernichtung der Ukraine forderten, hätten nun unter anderem die Mobilmachung, geschlossene Grenzen, blockierte Konten und Gefängnisstrafen für Deserteure erhalten. „Das Leben hat einen wunderbaren Sinn für Humor“, schloss Podoljak.
Sein Kollege Olexij Arestowytsch interpretierte den Schritt des Kremls dahingehend, dass die hohen Verluste Russland zu dieser Maßnahme zwingen. „Es sind mehr als 100.000 an Getöteten und Verwundeten, eher knapp 150.000“, schrieb Arestowytsch. Dabei seien bereits jetzt die nächsten 150.000 mental abgeschrieben. „Wie gut es doch ist, Russe unter Putin zu sein“, schrieb er ironisch. Moskau hatte am Mittwoch von 5937 toten eigenen Militärangehörigen seit Kriegsbeginn gesprochen. Auch unabhängige Beobachter halten die realen Verluste aber für ein Vielfaches höher als genannt.
210th day of the "three-day war". Russians who demanded the destruction of 🇺🇦 ended up getting:
— Михайло Подоляк (@Podolyak_M) September 21, 2022
1. Mobilization.
2. Closed borders, blocking of bank accounts.
3. Prison for desertion.
Everything is still according to the plan, right? Life has a great sense of humor.
Russische Streitkräfte mussten Niederlage hinnehmen
Die russische Politologin Tatjana Stanowaja meinte, dass Putin sich nach dem Scheitern seiner ursprünglichen Pläne, die Gebiete in der Ukraine rasch einzunehmen, zu den Beitrittsreferenden entschieden habe. Nach Aufnahme der Regionen habe er die Möglichkeit, die Territorien unter Androhung des Einsatzes von Atomwaffen zu verteidigen. Damit habe er seinen Einsatz in dem Krieg deutlich erhöht.
Die Separatisten in Donezk und Luhansk hatten angesichts des jüngsten ukrainischen Vormarsches gefordert, solche „Abstimmungen“ schnell anzusetzen. Zuletzt musste der Kreml eine empfindliche Niederlage hinnehmen, die russischen Truppen zogen sich nach ukrainischen Angriffen fast völlig aus dem Gebiet Charkiw zurück. Die Staatspropaganda warnte danach vor einer möglichen verheerenden Niederlage in dem Krieg. Dagegen betont die russische Militärführung immer wieder, dass alles nach Plan laufe und alle Ziele erreicht würden.
Scholz: Mobilmachung und Scheinreferenden völkerrechtswidrig
Die Bundesregierung hat Russlands Vorgehen indes scharf kritisiert. Die Entscheidung Putins zur Teilmobilisierung sei „eine weitere Eskalation dieses völkerrechtswidrigen Angriffskrieges gegen die Ukraine“, sagte Vize-Kanzler Robert Habeck (Grüne) am Mittwoch in Berlin. Es handele sich um einen „schlimmen und falschen Schritt aus Russland“, über dessen Folgen die Bundesregierung beraten werde. Zudem sei „klar, dass wir die Ukraine weiter vollumfänglich unterstützen werden“, fügte Habeck hinzu.
Auch die geplanten Abstimmungen in den russisch besetzten Gebieten Luhansk, Donezk, Cherson und Saporischschja verurteilte die Bundesregierung bereits als völkerrechtswidrig. Es sei „ganz, ganz klar, dass diese Scheinreferenden nicht akzeptiert werden können, dass sie nicht gedeckt sind vom Völkerrecht und von den Verständigungen, die die Weltgemeinschaft gefunden hat“, machte Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) am Dienstag am Rande der UN-Generalversammlung in New York deutlich.
