Mehr als 35.000 Tote bei „Jahrhundertbeben“ – Frau nach 157 Stunden gerettet

Eine Woche nach den verheerenden Erdbeben werden in einem Wettlauf gegen die Zeit weiter Überlebende aus den Trümmern geborgen. Die internationale Hilfe läuft, es gibt auch Selbstkritik.

Eine Frau in Antakya weint um einen geliebten Menschen, den sie bei den Erdbeben verloren hat. 
Eine Frau in Antakya weint um einen geliebten Menschen, den sie bei den Erdbeben verloren hat. dpa/Bernat Armangue

Istanbul/Damaskus-Eine Woche nach der Erdbeben-Katastrophe in der Türkei und Syrien steigt die Zahl der Toten weiter. Am Sonntag wurde die Schwelle von 35.000 bestätigten Opfern überschritten. Nach Schätzungen der Vereinten Nationen könnte die Zahl noch auf 50.000 oder mehr steigen. Der UN-Nothilfekoordinator Martin Griffiths sagte dem Sender Sky News am Sonntag im Erdbebengebiet Kahramanmaras, Schätzungen seien schwierig, aber die Zahl der Todesopfer könnte sich „verdoppeln oder mehr“. „Und das ist erschreckend“, sagte er.

Es gibt kaum noch Hoffnung, Überlebende unter den Trümmern zu finden. Trotzdem wurden am Wochenende immer wieder Menschen lebend gerettet - so ein sieben Monate altes Baby. Doch diese Wunder werden seltener. Deutschland will nun Betroffenen über ein unbürokratisches Visaverfahren die Möglichkeit geben, vorübergehend bei Angehörigen unterzukommen.

Sieben Monate alter Junge gerettet

Normalerweise kann ein Mensch höchstens 72 Stunden ohne Wasser auskommen. Winterliche Temperaturen in der Region erschweren zudem die Überlebenschancen. Doch Meldungen wie diese geben den Rettern Mut: Nach 140 Stunden unter den Trümmern wurde ein sieben Monate alter Junge in der türkischen Provinz Hatay gerettet, wie der Staatssender TRT berichtete. In der Stadt Kahramanmaras wurde ein neun Jahre alter Junge nach rund 120 Stunden gefunden, in Hatay eine 63-Jährige sogar nach 157 Stunden. Diese Wunder dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass für viele die Rettung zu spät gekommen ist.

Allein in der Türkei starben laut türkischen Behörden mindestens 29.605, in Syrien nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation (WHO) mindestens 5900 - und damit weit mehr als bislang angenommen. Mehr als 85.000 Menschen wurden zudem in den beiden Ländern verletzt. Die Türkei spricht inzwischen von einem Jahrhundert-Erdbeben.

Eine 63-jährige Frau wurde nach knapp sieben Tagen aus den Trümmern geborgen. 
Eine 63-jährige Frau wurde nach knapp sieben Tagen aus den Trümmern geborgen. Imago/Umit Turhan Coskun

UN-Koordinator räumt Fehler ein

Die Nothilfe läuft in vielen Regionen der Türkei weitestgehend gut, anders als im Nachbarland. Die Vereinten Nationen beklagten Versäumnisse bei der Hilfe für die Opfer im Nordwesten Syriens. „Wir haben die Menschen im Nordwesten Syriens bisher im Stich gelassen“, schrieb der UN-Nothilfekoordinator Griffiths bei Twitter während eines Besuchs in der syrisch-türkischen Grenzregion. Der UN-Sicherheitsrat diskutiert momentan über die Öffnung weiterer Grenzübergänge in die Türkei zu humanitären Zwecken, konnte sich bislang aber nicht auf eine Resolution verständigen.

Retter sorgen sich nach Berichten über Aggressionen um Sicherheit

Neben der ohnehin gefährlichen Arbeit zwischen den Trümmern bereitet den Rettungsteams ein anderer Aspekt Sorgen: „Es gibt zunehmend Aggressionen zwischen Gruppierungen in der Türkei. Es sollen Schüsse gefallen sein“, sagte Oberstleutnant Pierre Kugelweis vom österreichischen Bundesheer am Samstag der Nachrichtenagentur APA. Nach einer Unterbrechung setzten die Soldaten ihre Arbeit fort. Die türkische Armee habe den Schutz der Einheit übernommen.

Auch deutsche Einsatzkräfte vom Technischen Hilfswerk (THW) und der Hilfsorganisation I.S.A.R Germany unterbrachen ihre Arbeit, blieben aber vor Ort, um bei konkreten Hinweisen auf Überlebende auszurücken. I.S.A.R-Einsatzleiter Steven Bayer sagte: „Es ist festzustellen, dass die Trauer langsam der Wut weicht.“

Noch offen ist, wann deutsche Teams zurückkehren. Einige wollten am Montag aufbrechen. Ein THW-Sprecher sagte aber am Sonntagabend: Der türkische Katastrophenschutz habe über die EU darum gebeten, dass die Einheiten noch länger vor Ort bleiben sollen.

Seuchengefahr wächst

Und nun droht auch noch die Gefahr von Krankheiten. „In den Regionen, wo Menschen keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser haben, drohen irgendwann Seuchen“, sagte Thomas Geiner, erdbebenerfahrener Mediziner und Teil des Teams der Katastrophenhelfer vom Verein Navis. Die Menschen leiden noch immer unter eisigen Temperaturen. Ein Reporter des Senders CNN Türk sagte, in der Provinz Hatay mangele es an Heizgeräten. Zwar gebe es Zelte, aber diese könnten nicht aufgewärmt werden. Zudem würden mobile Toiletten dringend benötigt.

Am Montagmorgen (6.2.) hatte ein Beben der Stärke 7,7 das Grenzgebiet erschüttert, gefolgt von einem weiteren Beben der Stärke 7,6 am Mittag. Seither gab es bis Samstag mehr als 2000 Nachbeben in der Region, wie die türkische Katastrophenschutzbehörde Afad mitteilte.

Festnahmen in der Türkei

Im Süden der Türkei wurden mehrere Haftbefehle erlassen. Die Beschuldigten sollen für Baumängel verantwortlich sein, die den Einsturz der Gebäude begünstigt hätten, meldete die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu unter Berufung auf Strafverfolger. Experten kritisieren, dass erdbebensichere Bauvorschriften zwar auf dem Papier bestehen, aber nicht umgesetzt werden. Die Opposition macht die Regierung für den Pfusch am Bau mitverantwortlich - es gebe nicht ausreichend Kontrollen, lautet etwa die Kritik.

Giffey kündigt Luftbrücke aus Berlin in die Türkei an

Bei den Bemühungen um mehr Hilfe will die Stadt Berlin eine Hilfsbrücke einrichten. „Es ist gelungen mit vielen, die gespendet haben, (...) dass wir eine Luftbrücke von Berlin in die Türkei bauen, auch in Zusammenarbeit mit der türkischen Botschaft, mit dem Generalkonsulat“, sagte die Berlins Regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey am Samstag bei einem Gedenken an die Erdbebenopfer am Brandenburger Tor. Die Bundesregierung will zudem ein unbürokratisches Visaverfahren für Betroffene ermöglichen, damit sie zeitweilig bei Familienangehörigen in Deutschland unterkommen können. Das Auswärtige Amt teilte dazu mit: „Ziel ist es, das Visaverfahren für diese Fälle so unbürokratisch wie möglich zu machen.“