„Zu behäbig“: Wehrbeauftragte Högl kritisiert Tempo der „Zeitenwende“
„Der Bundeswehr fehlt es an allem“, sagt Eva Högl. Zudem sei das Tempo bei der von Olaf Scholz eingeleiteten „Zeitenwende“ zu langsam.

Die Wehrbeauftragte des Bundestages, Eva Högl, hat das langsame Tempo hin zu einer vollständigen Einsatzbereitschaft der Bundeswehr kritisiert. „Zwar sind die ersten Projekte auf dem Weg. Doch ist bei unseren Soldatinnen und Soldaten 2022 noch kein Cent aus dem Sondervermögen angekommen. Zu behäbig ist das Beschaffungswesen“, schreibt die SPD-Politikerin in ihrem am Dienstag in Berlin vorgestellten Jahresbericht. Sie stellt fest: „Die Lastenbücher der Truppe sind voller geworden, die Bekleidungskammern, Munitionsdepots und Ersatzteillager hingegen nicht.“
Dabei habe es selten einen so großen gesellschaftlichen Konsens gegeben, wie nach der von Kanzler Olaf Scholz (SPD) als Reaktion auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine ausgerufenen „Zeitenwende“, so Högl. „Der Bundeswehr fehlt es an allem“, sagte Högl dem Sender RTL/n-tv. Sie plädiert mit Hinweis auf Expertenstimmen auf einen Finanzierungsrahmen, der deutlich über die 100 Milliarden aus dem Sondertopf hinausgeht. „Die 100 Milliarden Euro allein werden nicht ausreichen, sämtliche Fehlbestände auszugleichen, dafür bedürfte es nach Einschätzung militärischer Expertinnen und Experten einer Summe von insgesamt 300 Milliarden Euro.“
Personal der Bundeswehr: Zielsetzung könnte verfehlt werden
Die Wehrbeauftragte blickt mit Sorge auf die Personalstärke in der Bundeswehr und zweifelt daran, dass bis zum Jahr 2031 die Zielstärke von 203.000 Soldatinnen und Soldaten erreicht werden kann. Die Personalstärke habe im vergangenen Jahr 183.695 betragen, ein leichtes Minus zu 2021 (183.051 Soldaten). Beim Bewerberaufkommen sei ein Minus von elf Prozent zu verzeichnen. Zudem werden das Potenzial und der Nachholbedarf bei der Einstellung von Frauen nicht ausgeschöpft. „Selbst inklusive des Sanitätsdienstes liegt der Anteil der Soldatinnen erst bei 13,21 Prozent“, so Högl.
Die Wehrbeauftragte hilft nach Artikel 45b des Grundgesetzes dem Bundestag bei der parlamentarischen Kontrolle der Streitkräfte. Sie gilt aber auch als Anwältin der Soldaten, die sich jederzeit an sie wenden können.
Strack-Zimmermann zur Bundeswehr: „Zeitenwende findet im Kopf statt“
Die Bundeswehr braucht nach Einschätzung der Vorsitzenden des Bundestags-Verteidigungsausschusses, Marie-Agnes Strack-Zimmermann, einen Strukturwandel. Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) habe eine Menge zu tun – „nicht nur nach Geld zu rufen, sondern es umzusetzen und die Beschaffung in Koblenz auf Trab zu bringen“, sagte die FDP-Politikerin am Dienstag im ARD-„Morgenmagazin“.
Die Beschaffung etwa von Ausrüstung müsse viel schneller und effektiver werden, sagte Strack-Zimmermann. „Der Kanzler sprach ja von ‚Zeitenwende‘, das ist nicht nur eine Frage des Geldes, Zeitenwende findet im Kopf statt.“ Deutschland habe sich jahrzehntelang Extrawüsche bei Bestellungen erlaubt, wodurch Lieferungen lange gedauert hätten. „Tatsache ist, wir brauchen schnell, wir brauchen Dinge, die auf dem Markt sind, die Dinge sind auf dem Markt.“
Bundeswehrverband: Armee im „desaströsen Zustand“
Auch der Vorsitzende des Bundeswehrverbands, André Wüstner, fordert, endlich Konsequenzen aus der von Scholz ausgerufenen „Zeitenwende“ zu ziehen. Die Politik unternehme bislang zu wenig gegen den „desaströsen Zustand“ der Bundeswehr, sagte Wüstner am Dienstagmorgen dem Sender WDR 5. Er sprach von Mängeln bei Waffensystemen, bei Munition und vielem mehr. Verteidigungsminister Pistorius habe vor kurzem gesagt, dass Deutschland nicht verteidigungsfähig sei. „Das muss man sich mal auf der Zunge zergehen lassen – und dass, obwohl wir Krieg in Europa haben. Das kann so nicht weitergehen.“ Dem Sender Bayern 2 sagte Wüstner, dass die Regierung teilweise immer noch „im Modus von vor dem Krieg in der Ukraine“ agiere.
Er sei glücklich und schaue zuversichtlich nach vorne, weil Deutschland mit Pistorius nun einen Verteidigungsminister habe, „der ungeduldig ist, der die Dinge adressiert und auch im Kabinett klar erläutert, warum er nicht nur mehr Geld braucht, sondern warum er auch andere Gesetze braucht“, sagte Wüstner im WDR 5. Man könne nur hoffen, dass die Regierung und das Parlament Pistorius folgten.
