Nicolas Werth erzählt in "Die Insel der Kannibalen" vom Massensterben in Stalins Sondersiedlungen: Der Sommer von Nasino
Im Frühjahr 1933 fuhr Taissja Tschokarewa von der sibirischen Volksgruppe der Ostiaken wie jedes Jahr mit ihrer Familie zur Insel Nasino, um Pappelrinde zu verkaufen. Doch schnell wurde ihr bewusst, "dass für uns die Saison gelaufen war". Die Insel, die etwa 900 km nördlich von Tomsk im Fluss Ob liegt, war schwarz von Menschen. "Sie hatten all diese Leute auf der Insel abgeladen, einfach so, unter freiem Himmel." Zur Verpflegung der Menschen gab es nur einen großen Haufen Mehl, "das vermengten sie mit Wasser, schlürften es und bekamen sofort Durchfall."Die Leute, so erzählte sie 1989 einem Mitarbeiter von Memorial, seien "wie die Fliegen" gestorben. Es waren über 10 000 Menschen, die man im April 1933 in Moskau und Leningrad verhaftet hatte, um die Städte rechtzeitig zum 1. Mai-Feiertag von "sozial schädlichen Elementen" zu "säubern". 60Prozent von ihnen starben bis zum Oktober.Die Tragödie von Nasino steht im Zentrum des Buches von Nicolas Werth, in dem er bedrückend anschaulich die Geschichte der stalinistischen "Sondersiedlungen" erzählt. Und da Werth sein Wissen zu komprimieren weiß, genügen ihm gut 200 Seiten, um seine Leser auf den bislang kaum wahrgenommenen "zweiten Gulag" aufmerksam zu machen.Er zeigt, wie der "grandiose Plan" des Geheimdienstchefs Jagoda vom Februar 1933, zwei Millionen "sozial schädliche Elemente" und zahlreiche Kleinkriminelle aus den überfüllten städtischen Gefängnisse nach Sibirien zu deportieren und dort anzusiedeln, von Beginn an im Chaos mündete: Die häufig willkürlich Verhafteten wurden nach Westsibirien deportiert, wo sich die sonst keineswegs zimperliche regionale Parteiführung überfordert sah, dieses teure Unternehmen zu organisieren und angesichts der Hungersnot in weiten Teilen des Landes Lebensmittel für die Deportierten zu beschaffen.Ohne Rücksicht auf diese Einwände wurden die Häftlinge an Orte gebracht, die möglichst tief in der Taiga lagen: Hunderte Kilometer von der nächsten Eisenbahn entfernt, kaum erreichbar für Versorgungstransporte. In Nasino kam es bald zu einem atemberaubendem Ausbruch von Gewalt, als die ausgehungerten Deportierten zu fliehen versuchten und den Dorfbewohnern Lebensmittel stahlen. Hastig aufgestellte Selbstschutzeinheiten machten Jagd auf Flüchtlinge, während es auf der Insel unter den Deportierten derweil zu einigen Dutzend Fällen von Kannibalismus kam.In Nasino, so Werth, mündete das stalinistische Projekt einer modernen Zivilisation in einer archaischen Dezivilisierung, in einen Krieg aller gegen alle. Werth gelingt es, diese Brutalität ohne jeden Voyeurismus darzustellen. Wie in kaum einem Buch über den Stalinismus wird deutlich, wie stark die Gesellschaft von Gewalt geradezu durchtränkt war - insbesondere an dieser Peripherie des Imperiums, wo Banden aus geflohenen "Kulaken" und anderen Deportierten das staatliche Gewaltmonopol beständig in Frage stellten und die Sowjetmacht meinte, sich nur mit bürgerkriegsähnlichen Strafexpeditionen von OGPU-Sondertruppen durchsetzen zu können.Für dieses Buch konnte Werth aus einem einzigartigen Quellenbestand schöpfen: Neben vielen Dokumenten aus dem zentralen Archiv des russischen Geheimdienstes stützt er sich vor allem auf Unterlagen einer Untersuchungskommission, die noch im Herbst 1933 die Ereignisse in Nasino untersuchte und deren Schriftstücke einzigartige Einblicke in das Denken der mittleren und unteren Ebene der Geheimdienstleute und Parteimitgliedern ermöglichen. Die Kommission kam zum Schluss, dass die Behörden im Fall Nasino vollständig versagt hätten - freilich mussten wieder einmal die regionalen und lokalen Instanzen als Sündenböcke herhalten. In Moskau dagegen war man sich keiner Schuld bewusst: Zwar hatte man dort den Tod tausender Menschen von Anfang an billigend in Kauf genommen hatte, nicht aber gezielt geplant.Genau so wurde die Politik der zentralen Führung an den Zielorten der Deportation jedoch häufig interpretiert. Einem Inspektor, der Kleidung für die Deportierten organisieren wollte, wurde vom lokalen Parteichef beschieden: "Gen. Schpek, Sie verstehen nichts von der Politik unseres Staates. Glauben Sie wirklich, diese Elemente seien zur Umerziehung hierher geschickt worden? Nein, Genosse, wir müssen es so einrichten, dass alle bis zum Frühjahr umgekommen sind." Wenn der Staat diese Menschen wirklich überleben lassen wollte, so schloss der Parteichef, "würde er sie ohne unsere Hilfe einkleiden."------------------------------Nicolas Werth: Die Insel der Kannibalen. Stalins vergessener Gulag. Siedler, München 2006. 222 S., 19,95 Euro.