NSU-Prozess: Wie Enver Simsek sterben musste

MÜNCHEN - Am 26. Tag des Prozesses gegen Beate Zschäpe und vier mutmaßliche Helfer des Nationalsozialistischen Untergrunds passierte etwas, was nur selten in Strafprozessen vorkommt: Verteidigung und Nebenkläger waren sich einig, in einem Punkt zumindest. Einträchtig kritisierten sie, dass die Ermittlungen auch dann noch nachlässig und unprofessionell waren, als das Ausmaß des rechten Terrors bekannt war.

Anlass waren die Vernehmungen des Angeklagten Holger G. durch die Polizei. Sie sind besonders wichtig, weil Holger G. in dem Prozess vor dem Oberlandesgericht in München selbst zu den Taten nur eine vorbereitete Erklärung abgegeben, aber keine Fragen zugelassen hat. Er hofft dennoch auf einen Strafnachlass im Rahmen der Kronzeugenregelung und hat die Mitangeklagten schwer belastet, während er sich selbst eher entlastete.

Die Verteidiger und die Nebenklägervertreter beklagten nach der Zeugenaussage eines Polizeibeamten, der Holger G. vernommen hat, dieser hätte sich zu schnell mit den Angaben G.s zufrieden gegeben, nicht nachgefragt, Widersprüche nicht aufzuklären versucht. Und Verteidiger wie Nebenkläger legten nahe, dass dies geschah, um den Kronzeugen, der sich seinen Strafnachlass doch erst noch hätte „verdienen“ müssen, „ergebnisorientiert“ zu schonen. Die Verteidiger, hoffen, dass G.s Aussagen bei der Polizei allenfalls begrenzt verwendet werden können. Die Nebenkläger fürchten das.

Später wurde ein weiterer Beamter des Bundeskriminalamtes befragt. Er hatte Holger G. unmittelbar nach dessen Verhaftung im November 2011 vernommen und auch er stellte keine Nachfragen, wohl, weil die Vernehmung bereits bis Mitternacht dauerte und weitere Vernehmungen geplant waren.

Für Verwunderung sorgte am Dienstag vor Gericht auch, dass der waffentechnische Gutachter vom Landeskriminalamt, der den ersten NSU-Mord an dem Nürnberger Blumenhändler Enver Simsek im Jahr 2000 mit aufklären sollte, zwei Jahre dafür benötigte, sein erstes, zwei Seiten umfassendes Gutachten anzufertigen. Der Sachverständige begründete es damit, dass damals anderes vordringlicher und er selbst möglicherweise auch krank gewesen sei. Genau könne er sich nicht erinnern.

Zur Aufklärung beitragen konnte der Sachverständige wenig, nur Hypothesen liefern über den vielleicht 15 Sekunden dauernden Tathergang: über die Reihenfolge der wahrscheinlich acht, möglicherweise aber auch sieben oder neun Schüsse, die insgesamt abgegeben wurden oder darüber, ob ein oder zwei Schützen auf Enver Simsek schossen. Klar ist nur, dass zwei unterschiedliche Pistolen verwendet wurden. Es ist auch wieder offen, ob bei dem ersten Mord überhaupt ein Schalldämpfer benutzt wurde. Der Schalldämpfer gilt den Anklägern als Beleg dafür, dass die Helfer, die die Waffe besorgt hatten, wussten, zu was sie benutzt werden sollte.

Am Dienstag stellte auch der Rechtsmediziner seinen Obduktionsbericht vor: Wie der tödliche Schuss an Enver Simseks Oberlippe eintrat, seinen Oberkiefer und die Keilbeinhöhle durchschlug und wie das kupferfarbene Projektil dann im Schädel steckenblieb, dort umfangreiche Blutungen auslöste. Wie der zweite Schuss den Schneidezahn zerstörte, das linke Auge durchschlug und das Projektil wieder austrat. Sechs weitere Schussverletzungen zählt der Rechtsmediziner auf, bis hin zu einem Streifschuss am Arm. Enver Simsek war 38 Jahre alt, ein gesunder Mann. Er starb zwei Tage nach dem Attentat, am 9. September 2000. (mit dpa)