Als Deutsche denken wir gerne, dass Deutschland der Nabel der Welt sei. Das stimmt in manchen Bereichen vielleicht. In einigen Dingen jedoch können wir viel von vermeintlichen „Entwicklungsländern“ lernen. Als ich wegen des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine wieder zurück nach Deutschland kam, hatte ich gleich mehrere Erweckungsmomente. Schmerzlich wurde mir da bewusst, dass wir in Deutschland in einigen Dingen der Ukraine weit hinterher hinken.
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1. Schnelles und günstiges Internet und Mobilfunk in der Ukraine
Fangen wir mal mit offensichtlichen Dingen an. Sie lesen diesen Artikel vermutlich auf dem Mobiltelefon oder auf dem Computer. Wie viel zahlen Sie für beides im Monat? Ich finde Internet in Deutschland teuer. Zudem gibt es in vielen Teilen des Landes immer noch kein schnelles Internet. In der Ukraine hatte ich seit 2016 schon DSL mit mindestens 100 Mbit/s, später deutlich mehr. 4G hatte man selbst in den abgelegensten Regionen. Und zahlen muss man dafür wenig. Datenflatrate auf dem Handy für weniger als acht Euro pro Monat, DSL zu Hause für weniger als zehn Euro. Klar, in der Ukraine verdient man weniger. Aber Kommunikation ist dennoch deutlich günstiger, auch in Relation.
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2. Kontaktloses Bezahlen
Schon mehrmals seit meiner Rückkehr habe ich mich dabei ertappt, dass ich kein Bargeld dabei hatte, obwohl ich es eigentlich gebraucht hätte. Besonders in Imbissen, an Kiosken, bei vielen Bäckern und im Späti ist Kartenzahlung immer noch ein Fremdwort. Sogar Taxifahrten lassen sich oft nicht mit Karte bezahlen. In der Ukraine hingegen war das nie ein Problem. Dort kann man wirklich überall mit der Karte bezahlen: In jedem Tante-Emma-Laden, beim Späti, im Dönerladen. Und das Taxi bucht man sowieso per App und zahlt mit Karte. In der Ukraine ging übrigens das Bezahlsystem Apple Pay mehr als ein halbes Jahr früher an den Start als in Deutschland. Während meine deutschen Freunde noch die Karte zückten, hatte ich schon das iPhone in der Hand.

3. Digitalisierung
Ähnlich wie bei Apple Pay ist die Ukraine auch bei der Digitalisierung Deutschland um Längen voraus. In Deutschland muss man für die meisten Behördengänge noch persönlich zum Amt. In der Ukraine hat man einen personalisierten Zugang zu Dienstleistungen staatlicher Behörden, der meist mit dem Bankkonto verknüpft ist. Hierüber lassen sich alle möglichen Dinge erledigen, wie die Wohnungsanmeldung, Handelsregisterauszüge oder Bauanträge. Die Ukraine ist sogar so fortschrittlich in diesem Bereich, dass man dort keine Ausweise mehr mitschleppen muss: Der Personalausweis ist in einer App auf dem Handy gespeichert und gilt bei den Behörden und anderswo als Ausweisdokument.
4. Behördentermine und Vorgänge
In anderen deutschen Kommunen mag die Situation besser sein, aber besonders in Berlin ist es ein Graus, einen Behördentermin vereinbaren zu müssen. Drei Monate hätte ich auf einen Bürgeramtstermin warten müssen. Nur mit Tricks und Beharrlichkeit lässt sich das mitunter beschleunigen. Einen Termin auf der Ausländerbehörde hat eine Bekannte von mir erst im September. In der Ukraine hingegen bekommt man häufig sofort einen Termin, kann ihn online reservieren oder einfach im Bürgeramt vorbeigehen. Bei der Ausländerbehörde dort habe ich nie länger als eine Stunde gewartet.
Als ich Mitte Februar eine Apostille für ein Dokument aus einem Ministerium in Kiew brauchte, sollte die Wartezeit ungefähr sieben Werktage betragen. Es wurden dann zwar fast drei Wochen, bis das Dokument in Lemberg in der Westukraine wie gewünscht aus dem Ministerium zurückkam. Seit dem 24. Februar befindet sich die Ukraine jedoch im Krieg und das Ministerium hat das gewünschte Dokument nicht nur bearbeitet, sondern es auch zustellen lassen, als Kiew noch teilweise von russischen Truppen umringt war und unter ständigem Beschuss stand. Was für ein Einsatz!
5. Ukrsalisnyzja (die ukrainische Bahngesellschaft)
Viel Post wird in der Ukraine übrigens noch mit der Bahn transportiert, die auch in Zeiten des Krieges noch verlässlich operiert. Viele Züge fahren durch Kriegsgebiete und kommen meist sogar pünktlich an. Die Deutsche Bahn schafft es hingegen nicht einmal ohne Beschuss ihre Züge fahren zu lassen. Hinzu kommt, dass die ukrainische Bahn erheblich günstiger ist und sich auch ärmere Menschen den Zug leisten können.
Ukrsalisnyzja hat zwar auch viele unrentable Strecken mittlerweile geschlossen. Dennoch ist die Bahn in der Ukraine immer noch das Hauptverkehrsmittel der Wahl. In Fernverkehrszügen gibt es übrigens eine feste Sitzplatzreservierung, sodass nur mitfahren kann, wer einen Sitzplatz gebucht hat. Dort muss also niemand über Stunden stehen.

6. Nachtzüge
Stehen ist auch ein gutes Stichwort, denn oft kann man in ukrainischen Zügen sogar liegen. In Deutschland wurde das Nachtzugnetz sukzessive durch die DB abgebaut. Heute tun sich vor allem ausländische Bahngesellschaften mit Nachtzugverbindungen in Deutschland hervor. Besonders viele Verbindungen gibt es jedoch nicht. In der Ukraine hingegen sind alle größeren Städte in den entfernten Teilen des Landes mit Nachtzügen verbunden.
So gibt es Nachtzüge von fast alle Großstädten nach Kiew oder auch von Lwiw nach Odessa, Charkiw oder Dnipro. In den Zügen gibt es günstige Großraumabteils mit Liegen, Vierer- oder Zweierabteile. Eine klimafreundliche Art des Reisens, wo man am nächsten Morgen in einer anderen Stadt aufwacht und sich das Hotel für eine Nacht spart.
7. Bezahlbarer Inlandsurlaub
Mit den günstigen Zügen reisen viele Ukrainer dann auch zum Sommerurlaub ans Schwarze Meer oder in die Karpaten. Dort gibt es wiederum günstige Gästehäuser die meist von umtriebigen Frauen betrieben werden und tolle landestypische Speisen kochen. Diese Art des Urlaubs können sich viele Ukrainer leisten, während der Auslandsurlaub meist ein teureres Unterfangen ist.

Natürlich hat das auch mit dem Lohnniveau in der Ukraine und anderen Faktoren zu tun. Aber man kann sich schon fragen, warum es günstiger ist, in die Türkei und nach Bulgarien für eine Woche zu fliegen, als ein Wochenende an der Ostsee oder im Schwarzwald zu verbringen und dort die lokale Küche zu genießen.
8. Ukrainische Küche
Das wäre auch gleich das nächste Thema: das Essen. Ich liebe viele deutsche Speisen, wie Thüringer Klöße und Bratwurst, ich kann auch mal Spätzle essen oder Leberkäs. Okay, und auch wenn viele es nicht zugeben wollen, ist das deutscheste Essen ja sowieso der Döner. Doch man muss auch feststellen, dass wir erstens keine einheitliche deutsche Küche haben, denn welches Gericht isst man im Norden, Osten, Süden und Westen gleich gern? Und zudem ist die deutsche Küche total fettig und fleischlastig.
Die ukrainische Küche hingegen hat neben lokalen Speisen aber auch viele Gerichte, die im ganzen Land beliebt sind und die jeder Ukrainer liebt. Dazu gehören neben dem Borschtsch (Rote-Bete-Suppe), Vareniki (Teigtaschen mit Füllung, ähnlich wie Maultaschen) und Deruny (Kartoffelpuffer, meist mit saurer Sahne). Die meisten dieser Gerichte sind übrigens nicht nur lecker, sondern auch fleischlos. Das Fleisch vermisst man dabei übrigens nicht. Wer möchte, hat aber auch immer die Möglichkeit Fleisch hinzuzufügen.

9. Ukrainische Trachten
Ähnlich wie mit dem Essen, ist es auch bei den Trachten. Auch wenn viele Amerikaner und andere Touristen meinen, dass wir alle in Lederhosen und Dirndln herumrennen würden, so trägt das außerhalb von Bayern und vom Oktoberfest ja kaum jemand. Und auch wenn es in manchen Regionen durchaus Trachten gibt, so haben wir Deutsche am Ende keine einheitliche Nationalkleidung. Anders die Ukrainer. Praktisch jeder von ihnen hat eine Wyschywanka im Schrank.
Diese Kleidung mit ihren gestickten Mustern gibt es praktisch in allen Farben. Männer tragen sie als Hemden, Frauen als Blusen oder als Kleid. Für die Stickmuster gibt es übrigens häufig regionaltypische Muster, die sich unterscheiden und an denen man mitunter erkennen kann, woher die Wyschywanka kommt. Jedes Jahr gibt es auch einen Wyschywanka-Tag der immer im Mai stattfindet und an dem Ukrainer und ihre Freunde die Tracht tragen. Ansonsten wird sie meist zu Feiertagen wie Ostern, Weihnachten oder dem Nationalfeiertag getragen.
10. Traditionelle Feste
Und das ist auch gleich der nächste Punkt. Auch in Deutschland feiern wir natürlich unsere Feiertage mit viel Tradition. Besonders an den beiden wichtigsten Feiertagen, Weihnachten und Ostern, fehlt es mir jedoch ein wenig an einheitlichen Traditionen. Das liegt nicht daran, dass ich besonders religiös wäre oder dass es nicht in vielen Familien eigene Traditionen gäbe. Aber in der Ukraine wird das Weihnachtsfest viel mehr familiär gefeiert. Es gibt immer zwölf Gerichte an Heiligabend, es gibt spezielle Grüße für die Feiertage, man trägt Tracht und hält bestimmte Rituale ein.

11. Kein Sonntagsverkaufsverbot
In Deutschland beschränken sich die Feiertage meist auf ein Öffnungsverbot für Läden, wie auch an Sonntagen. In der Ukraine hingegen haben Geschäfte die ganze Woche geöffnet, sodass man auch an Sonntagen Einkäufe erledigen kann. Sicher ist dieses Thema kontrovers, aber es hat auch einfach viele Vorteile, am Sonntag einkaufen zu können und ist für die Wirtschaft und den Arbeitsmarkt durchaus förderlich. Mir leuchtet es sowieso kaum ein, warum es bestimmte Branchen gibt, in denen sonntags nicht gearbeitet wird, während die Gastronomie, Tankstellen oder auch Journalisten sonntags schuften müssen. Stattdessen verbietet man es sogar Spätis, sonntags zu öffnen und überzieht sie mit horrenden Strafen.
12. Bessere ESC-Kandidaten
Und wenn wir schon mal beim Stichwort Strafe sind, dann müssen wir auch dringend mal über die deutschen Beiträge zum Eurovision Song Contest reden. Hier hat uns die Ukraine nämlich einiges voraus. Auch wenn es in Deutschland viel Meckerei gab, dass der Sieg der Ukraine mit Kalush Orchestra beim diesjährigen ESC eine Mitleidsgeste war (dem stimme ich übrigens, Überraschung, nicht zu), kann man sich schon fragen, warum wir seit einem Jahrzehnt nahezu durchweg nur auf den untersten Plätzen beim ESC landen. Die Ukraine hingegen hat eine hervorragende ESC-Bilanz, hat den Wettbewerb dreimal gewonnen, mehrere Top-10-Platzierungen und sich bei jeder Teilnahme für das Finale qualifiziert. Die Beiträge waren mal lustig, mal ernst und meistens wirklich passend. Hier übrigens mein Lieblingsbeitrag von Verka Serduchka, dem unterstellt wird, dass er statt „Dancing Lasha Tumbai“ eigentlich „Dancing Russia Good-Bye“ heißt. Er ist aus dem Jahr 2007 und hat an Aktualität gewonnen.
13. Rauchfreie Kneipen
Ich liebe die Berliner Eckkneipen. Günstiges Bier, urige Atmosphäre, musikalische Zeitreise in die Vergangenheit und natürlich die berühmte Berliner Luft. Die würde mir allerdings noch besser schmecken, wenn die Berliner Kneipen endlich rauchfrei wären. In der Ukraine stehen alle draußen oder es gibt separate Raucherräume. Für Berliner undenkbar und für mich vorher auch. Doch mittlerweile finde ich es super, nicht komplett nach Rauch zu stinken, besser atmen zu können und beim Rauchen vor der Tür ein paar freundliche Smalltalks mit anderen zu machen. Klar, der Rauch gehört zu den Berliner Eckkneipen. Aber warum eigentlich?
14. Bessere Technoszene
Und auch eine letzte deutsche Bastion gerät arg ins Wankeln: die Berliner Technoszene. Szenekenner zweifeln mittlerweile an, ob Berlin überhaupt noch die hippe Großstadt ist, wie man gern behauptet. Viele Clubs sind nur noch durchschnittlich. Eine der Städte, die Berlin den Rang abläuft heißt Kiew. Denn bis zur großflächigen Invasion der Ukraine durch Russland, und vermutlich auch danach, beherbergte die Stadt einige der besten Technoclubs Europas. In Läden wie dem Closer tanzten Tausende. Und auch Berliner flogen in letzter Zeit gerne in die Ukraine, um die Clubs, mit bezahlbaren Preisen und guten DJs aufzusuchen.

15. Mehr Wohneigentum in der Ukraine
Dafür hat man dort auch mehr Zeit, denn gefühlt verbringt halb Berlin Monate damit, eine Wohnung zu finden. In der Ukraine hingegen besitzen viele Menschen Wohneigentum. Denn der ukrainische Staat hat nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion die meisten kommunalen Wohnungen für günstiges Geld an die Mieter verkauft. Dadurch besitzen viele Ukrainer heute eine eigene Wohnung. In Deutschland hingegen zahlt die Mehrheit der Menschen ihr Leben lang Miete. In der Ukraine sind hingegen vor allem die Nebenkosten ein Thema. Ohne Dach über dem Kopf steht man dort nicht so schnell da. Wenn Berlin statt die Wohnungsgesellschaften zu verstaatlichen, Wohnungen einfach günstiger an Bürger abgeben würde, wäre die Wohnungsnot möglicherweise geringer und viele Probleme wie die Gentrifizierung würden gar nicht stattfinden.