Berlinale: Der Potsdamer Platz ist Umbauland – und das Kino zieht weiter
Vor etwas mehr als 20 Jahren schien die Berlinale glücklich eine neue Heimstatt gefunden zu haben. Aber die Tage sind gezählt. Eine Besichtigung.

In seinem filmischen Engelsepos „Der Himmel über Berlin“ lässt Wim Wenders den betagten Curt Bois als Homer durch das geteilte Berlin der späten 80er-Jahre irren. Homer dichtet nicht, er ist auf verzweifelter Suche. „Ich kann den Potsdamer Platz nicht finden“, spricht er vor sich hin. „Aber er muss hier doch gewesen sein.“
Der Schauspieler Curt Bois hatte den Platz als sinfonisch-lärmenden Verkehrsmittelpunkt in Erinnerung, und ebenso gut kannte er ihn als kulturelle Schnittstelle aus einer Zeit, als er auf Jobangebote aus war und auf die neuesten Nachrichten aus Bühnenkantine, Studios und Ateliers. Er war zu Hause in einem Berlin, wie wir es heute aus Filmen und von Bildern kennen.
Mit sieben hatte der 1901 geborene Curt Bois am Theater des Westens das Heinerle in der Operette „Der fidele Bauer“ gespielt, nach dem Ersten Weltkrieg wurde er als Komiker gefeiert und häufig als Schauspieler engagiert. In den legendären Künstlercafés, etwa das als Café Größenwahn bekannte Romanische Café und das Josty, ging er ein und aus. Sich sehen, miteinander reden, über Theater und Pferderennen schwadronieren. Zeitweilig betrieb Curt Bois einen kleinen Rennstall.
„A New Point Of View For Berlin“ am Potsdamer Platz
Unter dem apokalyptisch schief hängenden Dach des Sony-Centers meint man seine Stimme zu vernehmen, die abermals den Potsdamer Platz herbeisehnt, obwohl wir doch gerade einem Parkhaus entsprungen sind, das diesen Namen trägt. Das Café Josty ist noch da, aber Curt Bois hätte es wohl erneut verfehlt.
Gut 200 Meter vom ursprünglichen Standort entfernt ist es hier 2001 mit Teilen der Fassade des früheren Hotels Esplanade errichtet worden. Die einstige Bedeutung hat es nie wieder erlangt. Im Sommer ziehen die Hauptstadttouristen vorbei, einladender wirkt das bayerisch anmutende Lindenbräu. Berlin polyglott?
Gegenüber der Josty-Imitation verläuft ein langer Bauzaun durch das zugige Sony-Center, als nicht enden wollende Werbefläche getarnt. Dahinter werden Schuttberge hin- und herbewegt, an der Ostseite nahe der Zentrale der Deutschen Bahn sind Container übereinandergetürmt, als ginge es darum, den Worten Baustelle und Provisorium eine ganz neue Bedeutung zu verleihen. Berlin ist Umbauland, hier am Sony-Center firmieren die Arbeiten unter dem Begriff Revitalisierung. „A New Point Of View For Berlin“ wird vollmundig versprochen. Jetzt aber noch nicht. Wie vielerorts wird gesperrt, aufgehalten und aufgerissen. Was werden soll und wozu, geht aus der Zusammenschau der Gewerke nicht eindeutig hervor.
Feueralarm in The Playce
Kaum zu glauben, dass auf der anderen Straßenseite, über den stets etwas großmäulig daherkommenden „Boulevard der Stars“ genannten Mittelstreifen hinweg, die 73. Ausgabe der Internationalen Filmfestspiele, kurz Berlinale, abgehalten wird. Der rote Teppich ist wieder dort, flankiert von einer weißen Plexiglaspassage. Seit jeher verführen die kalten Berliner Winter die vielen Filmfreunde dazu, schnell in den Kinosesseln zu verschwinden. Ist es nicht einerlei, wo die Filme laufen und in welcher Umgebung?
Die Potsdamer Platz Arkaden, wo sich die Berlinale-Besucher vor der Pandemie mit Kaffee, Drinks und Snacks versorgen konnten, heißen jetzt Manifesto und Art Extravaganza, versammelt unter der Überschrift The Playce – Spiel und Platz. Sie wissen schon! Was das einmal genau werden soll, ist nur zu erahnen. Ein bisschen erinnert die Mall an die endlosen Passagen von Kowloon in Hongkong vor der Rückkehr in die totalitäre Obhut Chinas. In Berlin ist es auch in anderen Stadtregionen, etwa in der Schlossstraße, üblich, alle 20 Jahre die Shopping-Malls rundum zu erneuern.
Jetzt also Europas größter Food Hub, der in Etappen eröffnen soll. Und mit Feueralarm. Am Sonntag vor Beginn der Berlinale werden die Besucher und Flaneure durch einen schrillen Alarm aufgeschreckt und über Lautsprecher auf Englisch und Deutsch gebeten, eilig Burger, Noodle-Soup und Greek Salad am Tresen zurückzulassen und ohne Aufzugbenutzung auf schnellstem Weg das Gebäude zu verlassen. Ein Fehlalarm – das wissen alle. Aber was soll man anderes tun, als den Aufrufen Folge zu leisten? Die Sicherheitsmechanik ist ausgelöst, und weil wir den Benachrichtigungsbutton, das uns über die Fertigstellung unseres Mittagsgerichts informiert, gerade erst erhalten haben, beobachten wir minutiös das Anrücken von Polizei und Feuerwehr. Nach wenigen Minuten sind sie vollständig versammelt und befolgen, aufreizend gelangweilt, ihre Vorschriften. Sonntagsroutine für ein gigantisches Rekonstruktionsprojekt in der Mitte Berlins, das noch nach seiner Normalität sucht.
Die Berlinale – ein Wanderzirkus, warum denn auch nicht?
Obwohl die Berliner Filmfestspiele schon seit mehr als 20 Jahren im Berlinale-Palast und in den Kinos am Potsdamer Platz residieren, sind sie hier nie so recht heimisch geworden. Klar, Ende der 90er-Jahre war die Zeit reif dafür, sich von der Pantoffelhaftigkeit des Zoo-Palastes und den Funktionsräumen über den Shops in der Budapester Straße gegenüber der Gedächtniskirche zu lösen. Der Potsdamer Platz aber konnte gerade aufgrund seiner demonstrativen Behauptung, ein bedeutendes Ensemble der zeitgenössischen Architektursprache zu sein, seinen Durchgangs- und Passagencharakter nicht restlos abstreifen. Trotz zwischenzeitlicher Bemühungen, den Ort wenigstens versuchsweise zu mögen, schien er die Frage, ob er nun belanglos sei oder ein Ärgernis, nie verlässlich beantworten zu können.
Schon gar nicht seitens der Kinoleute. Der stolz Filmhaus genannte Aufenthaltsort für die so bedeutende Stiftung Deutsche Kinemathek befindet sich in Auflösung. Der Mietvertrag für das Museum für Film und Fernsehen, die traditionsreichen Arsenal-Kinos und die Deutsche Film- und Fernsehakademie (DFFB) läuft im Februar 2025 aus. Über Ausweichlösungen wird verhandelt. Die DFFB könnte ein paar Kilometer weiter in Moabit unterkommen, wo ein Forschungs- und Mediencampus entstehen soll. Die Arsenal-Kinos zieht es nach Norden ins Kulturquartier Silent Green in den Wedding, wo sich seit 2015 bereits das Archiv des Arsenals befindet. Für die Stiftung Deutsche Kinemathek sowie für die Berlinale-Büros ist ein neues Filmhaus im Gespräch, das auf dem derzeitigen Parkplatz des Martin-Gropius-Baus entstehen könnte. Im Berliner Kulturleben gehören Umzüge und Provisorien zum Normalbetrieb, derzeit übt man sich allenthalben darin, die neuen Lösungen als Verbesserung anzusehen.
Die Vorstellungen von einer wegweisenden Zukunftslösung haben sich vorerst verbraucht. Und anders als etwa das Centre Pompidou in Paris hat hier keines der Gebäude es je vermocht, den Charme alternder Architektur anzunehmen. Obwohl die äußere Hülle der Arkaden proper dasteht wie ein eben erst errichtetes Irgendwas, wird innen das ganz Neue beschworen: Coming soon, Kunst und Kulinarisches. Die in ähnlicher Intensität einst begrüßte Aussicht, endlich die West-Berliner Milieuenge zu verlassen und eine Berlinale der kurzen Wege in moderner Umgebung abhalten zu können, wird nun abgelöst durch die Erschließung neuer Abspielorte, etwa in der nicht gerade kuscheligen Verti-Music-Hall an der Mercedes-Benz-Arena in Friedrichshain-Kreuzberg. Die Berlinale – ein Wanderzirkus, warum denn auch nicht?
Probleme am Parkautomaten
Auf dem Rückweg ins Parkhaus unter dem Sony-Center treffen wir auf Erika und Ulrich Gregor, die Doyens des deutschen Films. Längst sind sie so etwas wie ideelle Schutzpatrone der Berlinale. 1963 gehörten sie zu den Mitbegründern der Freunde der Deutschen Kinemathek, 1970 waren sie als treibende Kräfte bei der Gründung des Arsenal-Kinos mit von der Partie, das als Mutter der sogenannten Programmkinos gilt. Viele Jahrzehnte war Ulrich Gregor Leiter des Internationalen Forums des jungen Films, das als Gegenbewegung zur Berlinale der Arrivierten gegründet worden war. Opas Kino ist tot, lautete damals die Parole.
Nach einem langen Nachmittag im Kino haderten die Gregors nun mit dem Kassenautomaten im Parkhaus, irgendetwas mit der Kreditkarte. Wir konnten helfen. Allein die Parkgebühr trieb Erika die Zornesröte ins Gesicht, allein schon bei der Vorstellung, was die vom Automaten aufgerufene Summe in Kinokarten ausmacht. Als wir ihnen auf dem Weg zu unserem Fahrzeug nachsahen, wehrte ich mich nicht dagegen, in ihnen Wiedergänger von Curt Bois zu sehen. Der Potsdamer Platz – hier muss er einmal gewesen sein.