Corona-Pandemie: Wir sollten nicht zulassen, dass die Unis wieder schließen

Die Nachwirkungen der Pandemie sind an den Unis zu spüren. Studenten wollen „das Beste aus Corona mitnehmen“. Unsere Autoren halten dagegen.

Die Humboldt-Universität zu Berlin
Die Humboldt-Universität zu BerlinBenjamin Pritzkuleit

„Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kommt aber darauf an, sie zu verändern.“ Dieser Satz von Karl Marx steht in goldenen Lettern im Foyer der Humboldt-Universität, das alle Studierenden, Forschenden und Lehrenden durchschreiten. Kann vielleicht Studieren selbst etwas Weltveränderndes sein? Ja, davon sind wir überzeugt, doch nur, wenn den Studierenden diese Welt nicht abhandengekommen ist.

Für vier Semester lag das Marx-Zitat hinter verschlossenen Türen und die Studierenden waren vor den Laptop verbannt. Wir möchten hier einen Vergleich zwischen der Online-Lehre und dem ersten Präsenz-Semester seit Beginn der Corona-Krise ziehen.

Denn seit April war all das endlich wieder möglich: die leidenschaftlichen Diskussionen in den Seminaren oder in der Mensa, die unverhofften Freundschaften mit Kommilitonen und Kommilitoninnen, mit denen man im alltäglichen Leben immer wieder zusammentrifft, das Witzereißen in den Pausen, die flüsternden Gespräche mit dem Banknachbarn in der Vorlesung oder der unerwartete Einwurf, der einen neuen Weg des Denkens eröffnet.

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Die Nachwirkungen der Online-Lehre

Ein Sommersemester mit einer scheinbar zurückgewonnenen Campusnormalität geht nun zu Ende, doch die Nachwirkungen der Online-Zeit sind immer noch sichtbar.

Am 12. Juli konnten die Studierenden der Humboldt-Universität – im Angesicht des Marx-Zitats – ihr Parlament wählen, das im kommenden Semester über die Geschicke der Hochschulpolitik mitbestimmen darf.

Doch mit Bestürzung haben wir gesehen, dass sich unter den Listen, die in der Wahl antraten, lediglich eine fand, die den gravierendsten Einbruch des Lebens aller Studierenden für wichtig genug hielt, um die Ablehnung einer erneuten Schließung der Universität im Winter in ihr Programm aufzunehmen.

Die einzige andere Liste, die auf die Online-Lehre einging, forderte dagegen unter der Überschrift „Das Beste aus Corona mitnehmen“ ausdrücklich, die Digitalisierung an der Universität auszuweiten. Und zwar in Gestalt von sogenannten hybriden Vorlesungsformaten.

Als Mitbegründer der studentischen Initiative NichtNurOnline fürchten wir, dass wir uns im Wintersemester unvorbereitet vor verschlossenen Türen und inmitten einer neuen Welle wiederfinden. Wir sind überzeugt, dass die vergangenen Online-Semester nicht für eine zukunftsfähige Form des Studiums stehen. Der Wert der Präsenz-Universität darf nicht vergessen werden – weder in Wahlprogrammen studentischer Listen noch unter den Studierenden selbst, die jetzt nach einem Campus-Sommer zu Recht die Ferien und nicht mögliche November-Lockdowns im Kopf haben.

Aus verschiedenen Gruppen heraus hat sich Ende Februar 2021 NichtNurOnline gegründet. Die Forderung zunächst: Entgegen der als unverhältnismäßig empfundenen völligen Schließung der Universitäten sollte der Präsenz-Lehre in irgendeiner Form erneut Raum geboten werden. Das Hygienekonzept konnte doch nicht nur Online-Lehre lauten.

Im März 2021 versteigerten wir als erste Aktion und Protestartikulation das ungebrauchte HU-Hauptgebäude (für 86 Euro und zwei Flaschen Club Mate!). Schließlich drückten wir unseren Unmut durch Präsenz-Seminare auf öffentlichen Plätzen aus. Wir sprachen mit Studierendenvertretern, der Universitätsleitung und einmal sogar mit der damaligen Bildungsministerin Anja Karliczek.

Gegen ein Studium in Einsamkeit

Die Grundüberzeugung bei den Teilnehmern unserer Initiative war, dass kein Studium gänzlich in Einsamkeit verbracht werden kann. Und zwar weil erst die gemeinsame tägliche Anwesenheit an einem Ort – dem man sich nicht von einem Klick auf den nächsten wieder entziehen kann – es vermag, eine Welt von menschlichen Beziehungen zu begründen. Und weil nur durch Beziehungen, deren Form oder Medium nicht ein Computer ist, sondern das eigene Leben selbst, dieses auch lebenswert ist.

Unser Protest stieß bei den offiziellen Studierendenvertretungen auf taube Ohren. Wir wurden sogar auf Twitter als menschenverachtend beschimpft. Studierende seien so privilegiert, hieß es, andere hätten größere Probleme – und wir kein Recht, die teilweise Öffnung der Universitäten zu fordern.

Die Gründe, warum wir damals keine Resonanz erfuhren, leben auch in den Vorstellungen fort, was die zukunftszugewandte Uni ausmache. In Gesprächen mit den Hochschulvertretungen, dem Senat und der Universitätsleitung lautete das Credo (neben Solidarität und dem Willen, Corona nicht zu verbreiten) auch: Dass man allen ein Studium ermöglichen müsse.

Durch die Hybridisierung könnten schließlich auch Mitglieder der Risikogruppe Teil der Universität bleiben. Doch ging es dabei nicht nur um Corona, auch Studierende mit Kind und Job würden online besser studieren können. Man behauptete sogar, Online-Lehre könne eine Lösung für überfüllte Hörsäle und den schwierigen Berliner WG-Gesucht-Markt sein!

Kein Wunder, dass jetzt in den Wahlprogrammen steht, das Studium müsse „mit allen Lebensentwürfen vereinbar“ sein. Nur das Studium selbst scheint als „Lebensentwurf“ nicht mehr zu zählen. Und den Wunsch nach einem barrierefreien Studium in Ehren: Aber wir sollten dafür kämpfen, dass alte Barrieren im Inneren der Universität abgebaut und nicht neue online errichtet werden.

Radikaler Einschnitt in das Studentenleben

Für alle war die Online-Zeit ein radikaler Einschnitt in ihr Studentenleben. Für die Erstsemester entfielen die entscheidenden Erfahrungen, die sonst den Beginn eines Studiums prägen. Manche, die 2019 ihr Studium aufnahmen, sind jetzt mit ihrer akademischen Ausbildung beinahe fertig. Mit einer leisen Trauer über die nicht geschlossenen Freundschaften und die nicht gedachten Geistesblitze verlassen sie die Universität.

Die Feiern und Barabende in diesem Semester wirkten anders als früher. Irgendwie fieberhafter und nervöser. Als wären viele der jungen Studierenden auf dem Niveau der Abiturzeit stehen geblieben. Viele beteuerten, wie aufregend so ein Seminar ohne Videokacheln sondern in echt doch sei! Und wie beruhigend, am Blick des Banknachbarn zu sehen, dass er der Vorlesung gerade auch nicht folgen kann!

Im Online-Modus wird das Studium nur auf diese eine Funktion reduziert: auf die einsame Abarbeitung des gegebenen Lernstoffs. Diesen Wandel erlebten auch alle, die vor Corona ihr Studium aufgenommen haben. Die Vereinzelung führte zu einer hohen Quote an Studienabbrüchen und bei den Mitgliedern der Initiative zu einem starken Gefühl der Entfremdung von der eigenen Universität und von einer Gesellschaft, die viel über die geschlossenen Schulen diskutierte, aber die Leiden der Studenten vollkommen ignorierte.

Das Studium verlängert haben alle aus unserer Initiative. Viele haben angefangen, im Ausland zu studieren, dort übrigens zumeist in Präsenz. Einer aus unserer Initiative gehörte zu denen, die während des Online-Studiums einen Abschluss erwerben konnten.

Die Unfähigkeit, sich über Zoom zu melden

Einer der dunkelsten Momente war für ihn, als er im Dezember online im Kolloquium seine Bachelorarbeitsidee vorstellte und nach den kritischen Fragen des Professors und der anderen Kolloquiumsteilnehmenden im kleinen WG-Zimmer alleine zurückblieb – und alle, die ihm auf die Schulter hätten klopfen können, verschwunden waren. Mit den allermeisten hatte er nie von Angesicht zu Angesicht geredet.

Wir sollten nicht zulassen, dass die Universitäten im Herbst erneut geschlossen werden. Viele Studierende berichten von ihrer Unfähigkeit, sich über Zoom zu melden und ihre Stimme zu erheben. Ist das nicht ein Zeichen dafür, dass sich das Medium selbst gegen eine Öffnung für etwas Unvorhergesehenes (oder gar Revolutionäres) sperrt? Jede Geste des Aufbegehrens wird durch die Distanz des Digitalen vollkommen pazifiziert. Allein die Präsenz-Lehre erlaubt uns das, was Marx mit den Feuerbachthesen herausfordert: nämlich die Welt zu verändern.

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