Deutsche Karrieren: Wie Nazi-Netzwerke in der Kultur fortwirkten

Berlinale, Documenta, ZDF: Noch immer sorgen Enthüllungen über NS-Verstrickungen für Schlagzeilen. Wie braun war die Kultur? Eine Studie soll Aufschluss geben.

Der umstrittene Berlinale-Leiter Alfred Bauer 1978 mit Claudia Cardinale.
Der umstrittene Berlinale-Leiter Alfred Bauer 1978 mit Claudia Cardinale.picture alliance

Wie kann es eigentlich sein, dass die Entdeckung persönlicher und institutioneller Verstrickungen in die Machtarchitektur des nationalsozialistischen Staates nach fast 80 Jahren immer wieder aufs Neue mit Verblüffung und Erschrecken bedacht wird? Verweise auf Lernprozesse und kontextualisiertes Wissen werden allenfalls bedingt wahrgenommen, wenn eine Tätergeschichte mit der Strahlkraft einer historischen Neuigkeit am Horizont erscheint. True Crime zieht auch in der Kultur- und Institutionengeschichte.

Also wird erstaunt gefragt: Wie kann es sein, dass bei der Kasseler Kunstausstellung Documenta der Aufstieg des jungen Werner Haftmann innerhalb des NS-Kunstsystems so lange unentdeckt blieb? Haftmann war neben Arnold Bode der Spiritus Rector der ersten drei Documenta-Ausgaben, und im Nebenbei seiner kunsthistorischen Publizistik hat er maßgeblich zur Verklärung der Gesinnung des Malers Emil Nolde beigetragen.

Im Modus des „Wie kann es sein?“

Zum Wie-kann-es-sein-Entsetzen, mit dem sich der Verdacht furchtbarer Kontinuitäten zwischen NS-Apparat und dem deutschen Nachfolgestaat verbindet, gehören auch die Berichte über Karl Holzamer und Alfred Bauer. Während von Holzamer, dem ersten Intendanten des Zweiten Deutschen Fernsehens (ZDF) erst vor wenigen Wochen öffentlich wurde, dass er Falschangaben zu seiner Mitgliedschaft in der NSDAP gemacht hat, erschütterte der Fall Alfred Bauer vor drei Jahren das sorgsam gepflegte Selbstverständnis des Filmfestivals Berlinale, das Schaufenster der freien Welt zu sein. Ganz so frei und unbeschwert ging es im deutschen Kino der frühen Jahre leider nicht zu. Zu einschlägig hatte Bauer als Filmfachmann und Apologet von Propagandaminister Joseph Goebbels dem Terrorstaat seine Dienste angeboten.

Drei Beispiele, ein System? Kurz vor dem Ende ihrer Amtszeit 2021 gab die Kulturstaatsministerin Monika Grütters eine Studie in Auftrag, deren Zwischenergebnisse nun von Jutta Braun vom Potsdamer Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung (ZZF) und dem Historiker Michael Wildt in der Berliner Akademie der Wissenschaften vorgestellt und diskutiert wurden. Konkret sollte es dabei um die NS-Aufarbeitung von BKM-geförderten Einrichtungen gehen, eine Art Rechenschaftsbericht. Tatsächlich aber zeichnet sich schon jetzt eine erfreuliche Erweiterung des Blickfelds ab, in der sich die Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen nicht darauf beschränken lassen, personenbezogene Daten im Sinne einer Be- oder Entlastung beizusteuern. Nicht nur zu den Verdächtigen selbst, sondern auch über ein argloses bis fahrlässiges Milieu von Zeitgenossen.

Auf Alfred Bauer trifft die Unterstellung einer gesellschaftlichen Blindheit gegenüber dessen Wirken in NS-Organisationen allerdings nur bedingt zu. In der Berliner Senatsverwaltung, so stellte der Historiker Wolf-Rüdiger Knoll vom Münchner Institut für Zeitgeschichte heraus, sei bereits 1960 nach Bauers Aktivitäten für Goebbels Propagandaapparat gefragt worden. Dass der erste Berlinale-Chef ein eifriger SS-Mann gewesen sei, galt 2020, als sich der Fall Bauer zu einem kulturpolitischen Sturm entwickelte, eingearbeiteten Filmhistorikern kaum als Enthüllung. Vielmehr geht die Charakterisierung Bauers als glühender Nazi aus einem Zitat der Gauleitung Mainfranken hervor, das der Filmwissenschaftler Wolfgang Becker bereits 1973 in seinem Buch „Film und Herrschaft“ über die Organisationsstrukturen der NS-Filmpropaganda veröffentlicht hatte.

Kein Umbruch ohne Kontinuitäten

Es wäre zwar eine Übertreibung, von einer braunen Berlinale zu sprechen, resümierte Knoll. Sehr wohl aber gab es über Bauer hinaus ein Netzwerk tatkräftiger Filmfunktionäre, das in die NS-Filmwirtschaft zurückreicht und dazu beigetragen haben könnte, „bestimmte Aspekte der nationalsozialistischen Gedankenwelt über das Medium Film in der Nachkriegszeit weiter zu verbreiten“.

Gleich mehrfach wurde in den Tagungsbeiträgen ein Satz des Historikers Norbert Frei zitiert, dem zufolge gesellschaftliche Umbrüche sich nicht ohne Kontinuitäten vollziehen. Am Beispiel der deutschen Musikkultur lässt sich ein weitgehendes Scheitern der Entnazifizierung beschreiben, weil insbesondere Musiker und deren Institutionen sich gegenüber Schuldgefühlen immunisierten. Das Selbstverständnis einer Überlegenheit der deutschen Musik entstand weit vor der Zeit des Nationalsozialismus und ist bis heute wirksam. Der Mangel an Diversität in deutschen Orchestern ist kein unmittelbares NS-Erbe, sehr wohl aber das eines musischen Chauvinismus, der vom NS-Regime gar nicht erst entfacht werden musste.

Der Appell der Forscher, weniger gebannt auf spektakuläre Einzelfälle wie Bauer, Gurlitt und Haftmann zu schauen und sich stattdessen mehr den faktischen und atmosphärischen Verbindungen der zeithistorischen Kontexte zu widmen, verhallt angesichts eines sich vielfach wiederholenden Paradoxons. Tatsächlich wird die finanzielle und personelle Ausstattung von Forschung durch nichts stärker begünstigt als durch Skandale. Zu Beginn der Amtszeit von Staatsministerin Monika Grütters war es der Fall des Kunsthändlers und -sammlers Cornelius Gurlitt, der den Bedarf von Provenienzforschung zu einem ebenso evidenten wie dringlichen Anliegen machte. Immer wieder neu aufkommende Nazi-Skandale legen also nicht primär, wie oft angenommen, ein kollektives Beschweigen und Verdrängen frei.

Während Frank Bösch vom ZZF die Konjunktur von Skandalen nicht zuletzt mit Phasen von jeweils akuten Medienwechseln in Verbindung brachte, markieren sie für Michael Wildt Bruchstellen herrschender Narrative. Skandale können zu Aufmerksamkeitsschüben verhelfen, oft jedoch verhindern oder verdecken sie notwendige Forschung in weniger plakativen Bereichen. So verwies Lea Wohl von Haselberg von der Filmuniversität Babelsberg auf den weitgehend unterschlagenen Aspekt der jüdischen Remigration in Film und Kultur nach 1945. Forschungslücken, so schickte die Kulturstaatsministerin Claudia Roth per Videobotschaft aus Hollywood voraus, müssten geschlossen werden. Das wäre eine wahrhaft herkulische Aufgabe.

Ein vordergründiger Rigorismus

Hinzu kommt so etwas wie ein emotional turn, von dem die Wiener Historikerin Kerstin von Lingen sprach. Damit meinte sie einerseits die emotionale Wirkung, die insbesondere die intensive Auseinandersetzung mit geraubten Kunstgegenständen mit sich bringen kann. Emotionalisiert und politisiert wird unterdessen auch eine Konkurrenz um Forschungsressourcen, in der NS-verfolgungsbedingte Provenienzforschung gegen die Untersuchung von Objekten aus kolonialen Kontexten ausgespielt wird.

Ein vordergründiger Rigorismus, der in der Wie-kann-es-eigentlich-sein-Haltung zum Ausdruck kommt, müsste denn auch abgelöst werden von einer interdisziplinären Grundlagenforschung, die dabei hilft, über bloße Tätergeschichten hinauszugelangen und eine nicht allein im Kulturbetrieb wirksame Nachgeschichte des Nationalsozialismus verstehen zu lernen.