Die Documenta ist in die Kampfzone politischer Begriffe geraten
Noch immer wird die Verantwortung für den Antisemitismus-Skandal auf der Documenta wie eine faule Kartoffel an den Tellerrand geschoben. Aber es geht um mehr.

Nachdem Adam Szymczyk, der künstlerische Leiter der Documenta 14, der Kasseler Ausstellung 2017 ein Defizit von über 7 Millionen Euro hinterlassen hatte, versuchte er seine haushälterische Verantwortung mit kuratorischen Mitteln zu traktieren. Als sei er nie der oberste Documenta-Macher gewesen, lamentierte er im Duktus kaltschnäuziger Vorwärtsverteidigung. Es sei an der Zeit, „das System der Wertschöpfung solcher Megaausstellungen wie der Documenta auf den Prüfstand zu stellen“ und deren „ausbeuterisches Modell“ anzuprangern. Es ging ja bloß um Geld.
Fünf Jahre später geht es um nicht weniger als die Existenz der seit 1955 stattfindenden Kunstschau, die nicht ohne lokalen Stolz als eine der weltweit wichtigsten Ausstellungen für zeitgenössische Kunst gilt. Um die Formulierung steiler Thesen war man in Kassel nie verlegen, diesmal aber kommt im „Museum der 100 Tage“ ein schrilles Soundprojekt zur Aufführung, in dem die politische Verantwortung an den Tellerrand geschoben wird wie eine faule Kartoffel.
Ein Geschenk des anderen Blicks?
Am Beginn des sich abzeichnenden Antisemitismus-Eklats standen vollmundige Versprechen. Durch Ruangrupa, so sagte Hessens Wissenschaftsministerin Angela Dorn der Hessisch-Niedersächsischen Allgemeinen noch im Juni, „bekommen wir einen anderen Blick auf die großen Themen unserer Zeit geschenkt“. Auf wunderbare Weise schien das indonesische Kollektiv, das mit der Durchführung der Documenta betraut worden war, vollauf der umweltpolitischen Agenda der Grünen zu entsprechen. Länder wie Indonesien, so Dorn, „müssen seit Jahrzehnten mit den Folgen der Erderhitzung umgehen, die wir im globalen Norden verursacht haben“. Es sei beeindruckend, welchen Mut und welche Aufgeschlossenheit Ruangrupa angesichts dessen ausstrahlen.
Als die skeptischen Stimmen nicht mehr zu verdrängen waren und über die Gefahren möglicher antisemitischer Äußerungen seitens der eingeladenen Akteure gemutmaßt wurde, wehrte man die Bedenken mit emphatischem Wortgeklingel ab. Kulturstaatsministerin Claudia Roth gab bereits im Februar zu Protokoll, die Kunstfreiheit wie eine Löwin zu verteidigen, sei eine ihrer wichtigsten Aufgaben. Und Kassels Oberbürgermeister Christian Geselle (SPD), qua politischem Amt auch Aufsichtsratsvorsitzender der Documenta, versprach, „sich jederzeit für die künstlerische Freiheit in die Bresche zu werfen“.
Derart beherzt möchte die Ausstellung nun niemand mehr in Schutz nehmen. Seit kurz nach deren Beginn Mitte Juni antisemitische Karikaturen auf einem riesigen Banner des indonesischen Kollektivs Taring Padi entdeckt wurden, sind die genannten Politiker beflissen bemüht, die Grenzen der Kunstfreiheit neu zu vermessen. Die künstlerische Leitung zog es unterdessen abwechselnd vor, sich halbherzig zu entschuldigen, zu schweigen oder regionale Besonderheiten für die antisemitischen Ausfälle heranzuziehen – als seien diese unkontrollierbare Erscheinungsformen eines kollektiven Tourettesyndroms.
Sozialromantische Verklärung
Fünf Wochen nach dem fatalen Start der Documenta ist nicht zu erkennen, wie das Kommunikationsversagen behoben werden könnte. Das liegt nicht zuletzt an der eindimensionalen Funktionalisierung der Kunst zu einer Plattform für politische Botschaften. Von Anfang an kam es einer sozialromantischen Verklärung gleich, den Stimmen des „globalen Südens“ Gehör verschaffen zu wollen, obwohl völlig unklar ist, worin der Gegenbegriff zu dieser widersprüchlichen regionalen Zuschreibung bestehen mag. Wer dazugehört und wer nicht, ist so offen wie die Redewendung von der schönen Kunst. Sehr viel ärgerlicher aber ist die demagogische Frontstellung, in der mit Thesen aus dem Baukasten postkolonialistischer Theorie die zivilisatorische Katastrophe des Holocaust kurzerhand delegitimiert wird. Die Documenta ist in die Arena umstrittener Schlagworte geraten.
Wie selbst das Bemühen um Vermittlung in rhetorischen Überbietungsversuchen mündet, zeigte unlängst eine Bemerkung Meron Mendels, mit der der Direktor des Bildungszentrums Anne Frank seine Dienste als Documenta-Berater quittierte. Er warf der Documenta-Leitung nicht weniger als eine neokoloniale Haltung vor. Würde es nicht reichen, diese endlich für ihren Dilettantismus und ihr Ungeschick zur Rechenschaft zu ziehen? Die Zukunft des Kasseler Kulturtankers dürfte nun davon abhängen, inwieweit es gelingen wird, sich aus der Kampfzone identitätspolitisch aufgeladener Ideologien herauszuarbeiten. Dabei ist es keine gute Nachricht, dass auch weite Teile der deutschen Politik längst klangvollen Sprachspielen aufgesessen sind, um den Anschluss an junge soziale Bewegungen und akademische Milieus nicht zu verlieren.