Dünne dürfen keine Dicken mehr spielen? Neue Merkwürdigkeiten aus Hollywood
Authentisch soll im neuen Hollywood nur noch der sein, der auch das ist, was er spielt, sagen Kulturkritiker. Welchen Sinn hat dann noch die Schauspielerei?

Es geschah einst im Ferienlager. Ich war elf Jahre alt und trat beim Abschlussfest mit einer lustigen Nummer auf. Dazu hatte ich mir ein Kissen unters Hemd gestopft und die Nase rot angemalt.
Mit Bierpulle in der Hand rezitierte ich ein klassisches Klamauk-Gedicht aus dem Bücherschank meines Opas: über „Zickenschulze aus Bernau“ und seine aus den Fugen geratene Hochzeit. Dabei schwankte ich besoffen hin und her.
Um Gottes willen! Ein dürrer, piepsiger Junge, der noch nie einen Tropfen Alkohol getrunken hat, spielt einen dicken, besoffenen Mann? Das geht überhaupt nicht. Zumindest wenn man den Debatten folgt, die derzeit im Kulturbereich laufen. Dünne sollen überhaupt keine Dicken spielen!, sagen Hollywood-Kritiker in den USA.
Dünne nähmen den Dicken ihre Rollen weg, sagen Kritiker. Sie festigten das Vorurteil, dass Dicke lächerlich und bemitleidenswert seien. Ein moralisch erweckter Ferienlager-Erzieher hätte mich also damals aus dem Raum führen, mir die Bierpulle aus der Hand nehmen und das Kissen unterm Hemd wegziehen müssen. Denn ich beleidigte ja mit meinem Tun alle beleibten Betrunkenen.
Hier traf es jüngst den Schauspieler Brendan Fraser, der im Film „The Whale“ einen dicken Englischprofessor darstellt. Dieser beginnt aus Trauer um seinen verstorbenen Partner krankhaft zu essen, bis er 270 Kilogramm wiegt. Um das darzustellen, musste Fraser einen gepolsterten Anzug tragen, Fatsuit genannt.
Soll man künftig nur das spielen, was man selbst ist?
Soll man künftig also nur das spielen, was man selbst ist? Wenn das so ist: Auf wie viele 270-Kilo-Schauspieler kann man denn in Hollywood zurückgreifen? Müsste ein halb korpulenter Schauspieler nicht auch einen Fatsuit anziehen? Und wie geht das alles weiter? Ziemlich weit, wie man schon ahnt. Jüngst hat etwa der Schauspieler Tom Hanks in einem Interview fast bedauert, dass er einst in „Philadelphia“ einen an Aids erkrankten schwulen Anwalt spielte. Das sei unauthentisch gewesen, sagte er.
Hat sich Dustin Hoffman eigentlich schon für die Darstellung eines Autisten mit Inselbegabung in „Rain Man“ entschuldigt? Oder Julianne Moore für ihre Alzheimer-Kranke in „Still Alice“? Müssen sie alle jetzt ihre Oscars zurückgeben, die sie für ihre Rollen erhielten?
Spielberg hat für „E.T.“ keine echten Außerirdischen gecastet
Natürlich könnte man im Film die Spiel-Räume weiter öffnen. Wenn man die Chance hat, mit diverseren Besetzungen mehr Authentizität zu erreichen: dann nur zu, Hollywood! Aber was sollen die ganzen Regeln, man dürfe dies nicht und dürfe das nicht? Beim Spielen geht es doch genau darum, etwas darzustellen, was man nicht ist. Schon die Kinder auf dem Hof wissen, dass sie nicht „in echt“ Ritter, Prinzessinnen und Astronauten sind, sondern das nur spielen.
Um es für Kinofreunde noch mal zusammenzufassen: Kate Winslet war nicht wirklich auf der Titanic. Gojko Mitic war kein echter Dakota. Brendan Fraser wiegt nicht 270 Kilo. Aber er spielt das super. Nicht umsonst wurde er kürzlich mit dem Oscar als bester Hauptdarsteller ausgezeichnet. Und für den Film „E.T. – der Außerirdische“ hat Steven Spielberg auch keine echten Außerirdischen gecastet. Es war gerade kein Ufo gelandet. In der Puppe des E.T. steckten abwechselnd drei kleinwüchsige Schauspieler, die leider nahezu unbekannt blieben. Dabei war ihre Leistung großartig.
Und genau darum geht es doch: um die Geschichte und die schauspielerische Leistung. Auch ich war übrigens mit meinen elf Jahren nicht schlecht – als dicker, besoffener Mann. Zumindest, wenn man so etwas am Lachen der Zuschauer misst. Aber vielleicht war auch nur der Kontrast zu komisch.