Ehrenrettung für Harald Welzer nach „Anne Will“: Ein Fernsehauftritt mit Folgen

Nach seinem Auftritt bei „Anne Will“ muss sich Harald Welzer viele Unterstellungen gefallen lassen. Geben seine Arbeiten Anlass für so viel Empörung?

Harald Welzer bei „Anne Will“
Harald Welzer bei „Anne Will“www.imago-images.de

Geradezu besorgt hatte das Nachrichtenportal T-Online, das bislang nicht gerade als Medium der gepflegten Debattenkultur aufgefallen ist, nach Ausstrahlung der ARD-Talkshow „Anne Will“ gefragt: „Wer ist der Mann, über den sich Andrij Melnyk empörte?“. Als ginge es darum, die Motive eines schlimmen Amokläufers verstehen zu lernen, präsentierte T-Online die Ergebnisse seiner spektakulären Recherche und ordnete diese sogleich ein: „Mit Krieg und Gewalt hat sich Harald Welzer in seinem Forscherleben immer wieder beschäftigt. Eine gewisse Kenntnis der Dynamik menschlicher Konflikte kann der Soziologe und Sozialpsychologe also für sich in Anspruch nehmen.“

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Was hat der Sozialpsychologe bloß getan, dass nun alles drauflosplappert und er zur Persona non grata erklärt wird? Zorn und Empörung hatte Welzers Auftritt auch in den sozialen Medien ausgelöst, weil er den – allerdings gescheiterten – Versuch unternommen hatte, dem ukrainischen Botschafter Andrij Melnyk, der als Lautsprecher seiner Regierung von Deutschland mehr und schnellere Unterstützung fordert, zu widersprechen. Oder hatten sich die beiden bloß herzhaft angegiftet?

Was er anzubieten habe, sei „moralisch verwahrlost“, hatte Melnyk gesagt. Er sei borniert, gab Welzer zurück, Melnyk solle lieber zuhören. Zum Austausch von Argumenten kam es tatsächlich nicht, Welzer wurde gleich mehrfach von Melnyk und Anne Will bei dem Versuch unterbrochen, seine erinnerungspolitischen Erkenntnisse in die Debatte einzuführen.

Ein arroganter Schnösel, der die Deutschen entlasten will?

Artikulationshilfen leistet auf Zeit online nun der deutsch-israelische Pädagoge Meron Mendel, der aus den kryptischen Formulierungen Welzers, in denen er auf die Familiengeschichte Richard von Weizsäckers angespielt hatte, eine sehr eindimensionale Lesart schmiedet. „Laut Welzers Darstellung hat der Krieg, den die Deutschen einst begonnen haben, sie nachhaltig traumatisiert. Trotz oder gerade wegen dieses an sich selbst verursachten Traumas hätten sie es jedoch geschafft, ihre Niederlage letztlich als etwas Positives zu verstehen, daraus moralische Größe zu gewinnen. Legt Welzer Melnyk nahe, die Ukraine solle sich ergeben, um Kriegstraumata zu vermeiden?

Bietet er ihm an, in der Niederlage eine Befreiung zu sehen? Vergleicht er die überfallene Ukraine mit Nazideutschland?“ Implizit werde der Zivilisationsbruch von Auschwitz zu einer Tugend, zu einer Qualifikation der Deutschen umgedeutet, die durch ihre präsente Kriegserfahrung nun die Ukrainer belehren können. Welzer als arroganter Schnösel also, der sich insgeheim eine private Entlastungstheorie von deutscher Schuld zusammengezimmert hat.

Lässt sich das wirklich aus den Bemerkungen vom Sonntag heraushören? Nicht, wenn man Harald Welzers Studien zur nationalsozialistischen Gewalt heranzieht. Zusammen mit dem Militärhistoriker Sönke Neitzel hatte er 2011 das Buch „Soldaten. Protokolle vom Kämpfen, Töten und Sterben“ (S. Fischer) herausgebracht. Darin werden über 150.000 Seiten von Abhörprotokollen ausgewertet, die Briten und Amerikaner in den Lagern mit deutschen Kriegsgefangenen angelegt hatten. Das Buch zeige die Kriegswahrnehmung von Soldaten in historischer Echtzeit, heißt es im Klappentext, und vermittele eine faszinierende und erschreckende Innenansicht des Zweiten Weltkriegs durch jene Soldaten, die große Teile Europas verwüsteten. Die Kritik lobte die Hebung des einzigartigen Quellenmaterials, und selbst der Militärhistoriker Wolfram Wette zeigte sich in seiner Rezension für die Zeit erschüttert darüber, dass selbst das Töten von Zivilisten, das Morden von Kindern, die Vergewaltigungen von jüdischen Frauen den deutschen Soldaten kein Wort des Mitgefühls, der Scham oder des Zweifels entlockten. Allemal, so Wette, handele es sich um einen wichtigen Beitrag zum sich immer weiter verdüsternden Bild der Wehrmacht.

Moralische Eitelkeit statt Debatte

Wie aus ganz normalen Menschen Massenmörder werden, hatte Harald Welzer bereits 2005 in seiner Studie „Täter“ (S.Fischer) zu erklären versucht. Diese Arbeit war es wohl auch, auf die Welzer gegenüber Melnyk anspielte, als er diesem bei „Anne Will“ vorwarf, sich nicht hinreichend mit seiner Forschung beschäftigt zu haben. In dem sofort einsetzenden Mediengewitter war dies ein Beleg für Welzers überbordende Eitelkeit.

In seiner Studie geht es um das berüchtigte Reservepolizeibataillon 45, ein während des II. Weltkriegs in der Ukraine tätiges deutsches Killerkommando. Der amerikanische Historiker Christopher Browning, der selbst einschlägige Werke über die Ermordung der Juden geschrieben hat – darunter das Buch „Ganz normale Männer“ über das Reservepolizeibataillon 101 und die „Endlösung“ in Polen (Rowohlt Verlag) –, lobte Welzers Arbeit in der Wochenzeitung Die Zeit als „wichtig“ und „wertvoll“, nicht zuletzt weil Welzer einen „normativen Referenzrahmen“ einführe, der eine Art ethisches Milieu beschreibt, in dem die Deutschen sich ab 1933 befunden hätten. Es sei also eine ganz spezifische NS-Moral entstanden. Bei „Anne Will“ hatte Welzer darauf beharrt, dass die Dynamik des Krieges ganz eigene, kaum zu kontrollierende Verhaltensnormen hervorbringe.

Harald Welzers „Täter“-Studien wurden in der Wissenschaft durchaus kritisch diskutiert. So bemängelt etwa Tobias Bütow in dem Fachportal H/Soz/Kult, die Konzentrationslager-Forschung werde ausgeblendet, allen voran die Studie zur „Ordnung des Terrors“ von Wolfgang Sofsky. „Zudem schreibt Welzer eigentlich nicht darüber, wie aus ‚ganz normalen Menschen‘ Massenmörder werden, sondern konzentriert sich auf ganz normale Männer. Täterinnen existierten in Deutschland oder auch in Rwanda offenbar nicht – sieht man von einer halbseitigen Textpassage ab.“

Das ist der Sound einer Kritik, der Wissenschaftler sich zu stellen haben. Was aber seit vergangenen Sonntag über Harald Welzer hinweggezogen ist, sind die Unwetter einer Debatte, in der der Austausch von Argumenten der Behauptung der jeweils eigenen moralischen Eitelkeit gewichen ist.