Ein Jahr Krieg in der Ukraine: Es braucht eine Osterweiterung des Bewusstseins
Seit einem Jahr sendet der ukrainische Präsident Selenskyj mit gleichbleibender Dringlichkeit Appelle an die westliche Welt. Es wird Zeit, diese zu verstehen. Ein Kommentar.

Es ist ein beinahe gewohntes Bild, wenn der übergroß auf einer Leinwand erscheinende ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj auf ein Saalpublikum herabblickt und zu einer Rede ansetzt. Die Anlässe und die Orte wechseln, aber der suggestiven Kraft, die der frühere Komiker und Schauspieler dann jeweils verströmt, vermag man sich kaum zu entziehen.
In der vergangenen Woche boten die 73. Internationalen Filmfestspiele von Berlin dem Präsidenten eine glamouröse Bühne. Immer wieder wurden während der TV-Übertragung die Gesichter von Filmstars und Politikern eingeblendet. Rührung, Ergriffenheit, Sorge. Knapp ein Jahr nach den weiterhin unerbittlichen russischen Attacken gegen den ukrainischen Staat und dessen Bevölkerung scheint Selenskyj seine zentrale Aufgabe noch immer darin zu sehen, die Menschen einer sich abzuwenden drohenden Welt und deren Gefühle zu erreichen. Und so sprach er zur Berlinale-Eröffnung am Beispiel von Wim Wenders’ Film „Der Himmel über Berlin“ von der Vision politischer Veränderung und den Perspektiven einer Nachkriegszeit für Europa und die Ukraine. Skepsis über eine baldige Lösung der militärischen Konstellation ist angebracht, Zweifel an einem gelingenden Danach kaum zu vertreiben. Das jedoch ändert nichts an der inneren Legitimation, die man verspürt, wenn Selenskyj zu seinem Publikum spricht.
Habermas und die „zermalmende Gewalt“
Die Zweifler und Kritiker sind nicht weniger suggestiv, es gibt kein kühl-rationales Argument gegen eine hinter Aufrufen und offenen Briefen lauernde Atomangst. Selbst ein sorgsam abwägender Denker wie Jürgen Habermas schien unlängst einräumen zu müssen, dass die Unterscheidung zwischen Angriff und Verteidigung verloren zu gehen droht. In dem Maße, wie sich die Opfer und Zerstörungen des Krieges als solche aufdrängen, schrieb er in der Süddeutschen Zeitung, werde das Kriegsgeschehen als die „zermalmende Gewalt“ erfahren, die so schnell wie möglich aufhören solle. „Und je mehr sich die Gewichte vom einen zum anderen Aspekt verschieben, umso deutlicher drängt sich dieses Nichtseinsollen des Krieges auf.“
Jürgen Habermas spricht, obwohl er die 1945 in Kraft getretene Charta der Vereinten Nationen und die Einrichtung des Internationalen Gerichtshofs in Den Haag als Beispiele für ein verändertes Bewusstsein der Staatengemeinschaft heranzieht, aus der spezifisch deutschen Erfahrung zweier Weltkriege. Dass andere Nationen, insbesondere die von Deutschland überfallenen, andere Vorstellungen von Krieg und Verteidigung haben, scheint gerade von den Urhebern pazifistisch motivierter Appelle, mit denen auf Verhandlung und Kompromiss gedrungen wird, stets aufs Neue ausgeblendet zu werden.
Zum Ende seines Aufsatzes verweist Jürgen Habermas auf die geopolitische Dimension des Krieges, die weit über die Streitobjekte der Kriegsparteien hinausreiche. „Der Krieg hat überhaupt die Aufmerksamkeit auf einen akuten Regelungsbedarf in der ganzen mittel- und osteuropäischen Region gerichtet“, so Habermas. Die nüchtern-technokratische Diktion, für die hier die Worte Streitobjekte und Regelungsbedarf stehen, verkennt bereits sprachlich die veränderte Rolle der politischen Akteure dieser Region. Wenn wiederholt eine Führungsrolle angemahnt wird, die Olaf Scholz und die Deutschen einnehmen mögen, wäre dies eine, in der Polen, Lettland, Litauen, Estland und andere nicht länger als Außenposten des europäischen Staatenbündnisses betrachtet werden. Vielmehr bilden diese das Epizentrum eines die Weltsicherheitsarchitektur erschütternden Bebens. Die lange belächelte Floskel vom „alten Europa“, mit der der frühere US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld insbesondere Deutschland und Frankreich kritisch von den osteuropäischen Staaten abgrenzte, hat eine neue, vor dem Hintergrund des Krieges allenfalls bedingt wahrgenommene Aktualität erhalten.
Eine neue Nachkriegsordnung
Bei der Schaffung einer Nachkriegsordnung wird man sich nicht erlauben können, von mittel- und osteuropäischer Region zu sprechen, deren Staaten im Fall von Waffenlieferungen zuletzt lediglich als Ringtauschpartner angesehen wurden.
Die seit einem Jahr schmerzlich geführten Debatten über Krieg und Frieden, in denen über Begriffe wie Kriegspartei, die Einrichtung von Flugverbotszonen und den Einsatz strategischer Atomwaffen gestritten wird, als verliefe die Eskalation in den Bahnen von Logik und Kalkül, haben deutlich gemacht, dass der zu vollziehende Paradigmenwechsel, den das Stichwort Zeitenwende markiert, in vielerlei Hinsicht unverstanden ist. Selenskyjs performatives Drängen ist nur der Vorbote einer notwendigen Osterweiterung des europäischen Bewusstseins.