Pflegereform: Wozu dient der Sozialstaat, wenn nicht für diese Fälle?

Der Bundestag soll diese Woche eine Pflegereform verabschieden, die ihren Namen nicht verdient. Wozu der Aufwand? Ein Kommentar.

Die Deutschen werden immer älter, doch um die Pflege kümmert man sich immer erst zuletzt – in Politik, Medien und Öffentlichkeit. 
Die Deutschen werden immer älter, doch um die Pflege kümmert man sich immer erst zuletzt – in Politik, Medien und Öffentlichkeit. dpa

Na so was aber auch: Eigentlich habe die Bundesregierung ja versprochen, dass – wie bei der Rente längst üblich – direkt aus dem Steuertopf die Aufgaben der darbenden Pflegeversicherung unterstützt würden.

Doch „mit Blick auf das Haushaltsloch“ sei nun eine Pflegereform auf dem Tisch, die als Reförmchen bezeichnet werden könne, wenn sie in dieser Woche im Bundestag verabschiedet werden sollte. So moderierte Jörg Schönenborn am Sonntag den ARD-„Presseclub“ zu Thema Pflege an.

Soll heißen: Alles andere war mal wieder wichtiger – Krieg, Inflation, Energiepreise. Irgendwas ist ja immer. Und nun, da das Geld ausgegeben und anderen versprochen ist, sollen sich die Pflegebedürftigen und ihre Angehörigen freuen, dass ihnen doch noch ein paar Almosen zugedacht werden.

Dabei ist Reförmchen noch ein freundliches Wort für das, was da zur Abstimmung steht. Zwar ist es erst mal gut, dass das Pflegegeld erhöht werden soll und dass überhaupt mal wieder das Thema Pflege im Bundestag diskutiert wird. 

Doch schon bei diesem fast einzig positiven Befund gibt es Abzüge: Eine Erhöhung des seit 2017 nicht mehr erhöhten Pflegegeldes um fünf Prozent – womit weder Inflation noch steigende Preise noch die Tatsache abgefedert werden, dass die 2022 massiv erhöhten Pflegekosten vor allem durch die Lohnerhöhung im Pflegesektor allein auf die Patienten und Angehörigen umgelegt wurden – ist eigentlich keine Erhöhung, sondern eher eine weitere von vielen Demütigungen, denen sich Pflegebedürftige und ihre Angehörigen in diesem Land ausgesetzt sehen.

„Keine Gewerkschaft hätte das akzeptiert: sechs Jahre lang keine Erhöhung des Pflegegeldes und im nächsten Jahr nur fünf Prozent mehr“, sagte Zeit-Redakteur David Gutensohn im „Presseclub“, da müsse dringend noch nachgebessert werden. Journalistin Liane Bednarz rechnete vor, dass dies bei Pflegegrad vier gerade mal 37 Euro mehr im Monat seien, wovon man sich vielleicht ein Eis backen kann, aber definitiv keine Unterstützung einkaufen auf dem Pflegemarkt. Und Pflegekritiker Claus Fussek nannte es gleich einen „Witz“ – es sei überhaupt würdelos, dass die Diskussion um die Pflege hierzulande immer rein monetär geführt werde mit der Frage: Können wir uns das leisten? Die Frage müsse umgekehrt viel eher lauten: Welche Pflege wollen wir uns denn leisten? Denn was man für das Geld noch an Pflege bekommt, sei doch eher beschämend. 

Immer schlechtere Pflege für immer mehr Geld?

Damit hat der gute Mann vollkommen recht. Wie auch mit der Betonung der Tatsache, dass wir eh ein „absurdes Pflegesystem“ haben, weil wir „die Menschen in die Betten pflegen. Denn: Je höher der Pflegegrad, desto mehr Geld bekommen die Anbieter aus dem System.“ So verballern wir an diesen und anderen Stellen Millionen bis Milliarden Euro aus den Sozialkassen und sorgen mit den extrem hohen Zuzahlungen, die jeder Pflegebedürftige privat zu leisten hat, zudem für eine Umverteilung des Vermögens von unten nach oben.

Weil die Pflegeversicherung nur eine Teilkasko ist, zahlen etwa Heimbewohner monatlich im Schnitt 2400 Euro drauf, obwohl die Renten durchschnittlich bei 1200 Euro liegen. Den Rest zahlt entweder der Sozialstaat – oder, wie bei den meisten: Das Vermögen geht dafür drauf, wer ein Haus hat, muss es verkaufen, um sich die Pflege leisten zu können. Und das, wie Fussek betont, während „wir mit Pflegeheimen an der Börse sind“.

All das galt für die letzten Jahre, inzwischen geht es aber auch immer mehr Heimbetreibern an den Kragen, weil auch sie sich die gestiegenen Preise in der Pflege und die allgemeinen Lebenshaltungskosten nicht mehr leisten können. Und womöglich auch, weil immer mehr Angehörige sich fragen: Wozu diese horrenden Preise zahlen, wenn die Pflege zu Hause sogar besser funktionieren kann?

Über 80 Prozent der Pflegebedürftigen – in Berlin sind es gar 84 Prozent – werden zu Hause gepflegt und nicht in Heimen. Erstens wünschen sich das die meisten Pflegebedürftigen, zweitens wissen immer mehr Menschen um die Zustände in vielen Heimen aufgrund von Pflegenotstand und Kostendruck und wollen ihren alten und/oder kranken Familienmitgliedern das einfach nicht zumuten. Das ist der Grund, warum es so viele pflegende Angehörige gibt: je nach Zählweise drei bis zehn Millionen, bei fünf Millionen Pflegebedürftigen. Auch die Politik hat sich vor vielen Jahren die Unterstützung der ambulanten Pflege, also der Pflege zu Hause, auf die Fahnen geschrieben. Nur leider merkt man in der Praxis so gar nichts davon.

Die Reform ist mal wieder kein großer Wurf - wie geht es denn nun besser?

Solange wir in Politik, Medien und Öffentlichkeit beim Thema Pflege immer nur über die professionelle Pflege reden, in Heimen und Kliniken, die aufgrund der Umstände leider schon lange nicht mehr so professionell arbeiten kann, wie sie es gerne täte, und so gut wie nie über pflegende Angehörige und die – mehrheitliche – Pflege zu Hause, solange wird weiterhin Politik abseits der Realität betrieben. Und gegen die Interessen der Betroffenen. Da fragt man sich auch: Wofür dann noch der Aufwand einer Pflegereform?

Das Pflegesystem ist am Ende, das sagten die Diskutanten im „Presseclub“ am Sonntag, das sagte auch der Gesundheitsminister erst letzte Woche: „Das jetzige System kann man nicht immer weiter ausbauen, es muss anders gemacht werden“, so Karl Lauterbach im Bundestag. Es geht wohl nun allein darum, die Löcher in der Pflegeversicherung kurzfristig zu stopfen, deshalb erhöht man die Beiträge einmal mehr. 

Vorschläge, wie man es denn nun besser machen könnte, gibt es viele: die Pflegeversicherung als Vollkasko, die Einführung einer Bürgerversicherung, die Abschaffung der Beitragsbemessungsgrenze in der Pflegeversicherung, eine eigene Steuer, etc. Doch noch einmal hat Fussek recht, wenn er sagt: Es nütze nichts, immer mehr Geld in ein System zu pumpen, das vollkommen intransparent sei. Genau da sollte man ansetzen und endlich mal ein transparentes System schaffen, das sich dann auch vernünftig gestalten ließe.

Denn wie absurd ist es bitte, dass ein Staat, der in diesem Jahr Rekordeinnahmen und Rekordausgaben verzeichnet, aber ausgerechnet an die Alten und Kranken zuletzt denkt, sich noch ernsthaft Sozialstaat nennt?