Antisemitismus – was hinter den Buhrufen gegen Claudia Roth steckt

Der Zentralrat der Juden spricht davon, dass sich einiges aufgestaut hat im Verhältnis zur deutschen Kulturpolitik. Ein Kommentar.

„Eine starke und bunte Demokratie“: Kulturstaatsministerin Claudia Roth während ihres Grußwortes beim „Jewrovision“-Wettbewerb in Frankfurt am Main
„Eine starke und bunte Demokratie“: Kulturstaatsministerin Claudia Roth während ihres Grußwortes beim „Jewrovision“-Wettbewerb in Frankfurt am MainWolfgang Kumm/dpa

Buhrufe gehören zur Grundausstattung der politischen Rhetorik, und für einen bestimmten Politikertypus waren sie das Elixier, um auf Betriebstemperatur zu kommen. An Herbert Wehner und Franz Josef Strauß erinnert man sich als Redner in Rage, und von Helmut Kohl bleibt jene Szene im Gedächtnis, in der er seinen massigen Körper in Wallungen versetzte, um einen Eierwerfer ganz persönlich zu stellen.

Vor diesem Hintergrund könnte es als alltägliche Notiz durchgehen, dass Kulturstaatsministerin Claudia Roth am vergangenen Wochenende zu Beginn der jüdischen Kulturveranstaltung „Jewrovision“ in Frankfurt am Main nachhaltig gestört wurde. Auf einem via Twitter verbreiteten Video ist zu sehen und hören, wie sie angesichts der Proteste ihre Rede unterbrach und rief: „Das ist Demokratie. Ich nehme diese Kritik an, weil wir eine starke und eine bunte und eine mutige Demokratie sind.“

Aufgestaut? Entladen?

Zurück zur Tagesordnung also? Das geht schon deshalb nicht ohne weiteres, weil Vertreter des Zentralrats der Juden, der Roth zur Eröffnung der Veranstaltung eingeladen hatte, Verständnis, ja Genugtuung für die Kritik an der für ihre Impulsivität und Spontaneität bekannten Politikerin geäußert hatten. In einem Schreiben des Zentralrats heißt es nur scheinbar beschwichtigend, durch die Aktion habe sich lange aufgestauter Frust deutlich entladen. Es sei eine Konsequenz der Entwicklungen im deutschen Kulturbetrieb der vergangenen Jahre. Aufgestaut? Entladen? Allzu oft scheinen Juden in Deutschland zuletzt wieder den Eindruck gewonnen zu haben, in eine Außenseiterrolle gedrängt zu werden.

So sehr man dem Zentralrat zustimmen mag, dass Antisemitismus im deutschen Kulturbetrieb nichts zu suchen habe, verwundert es allerdings, dass die zahlreich zu beklagenden antisemitischen Vorfälle im Bereich der Kunst und Kultur allein der erst seit Ende 2021 im Amt befindlichen grünen Politikern angelastet werden. Zerstreuen konnte sie die Vorbehalte anscheinend nicht. Trotz wiederholter Versuche Roths, das spätestens seit der Debatte um antisemitische Darstellungen auf der Kunstausstellung Documenta in Kassel belastete Verhältnis zwischen dem Zentralrat der Juden und der obersten deutschen Kulturinstanz zu kitten, hält sich hartnäckig der Verdacht, dass antisemitische Äußerungen, zumindest in Gestalt von Kritik am israelischen Staat, inzwischen vernachlässigt, wenn nicht gar als legitim erachtet werden.

Der Eindruck, dass im deutschen Kulturbetrieb Haltungen möglich sind, die Antisemitismus nicht von vornherein ausschließen, ist 2020 durch ein Manifest verstärkt worden, das unter dem sperrigen Namen „Initiative GG 5.3. Weltöffentlichkeit“ veröffentlicht wurde. Die Autoren des von Vertretern zahlreicher Kultur- und Wissenschaftsinstitutionen unterschriebenen Papiers sprachen sich demonstrativ für die Freiheit der Kunst und der Wissenschaft sowie der Forschung und der Lehre aus. Und obwohl man sich darin ganz ausdrücklich gegen die Aktivitäten des BDS, der umstrittenen Boykottbewegung gegen Israel, positionierte, wurden der Initiative anschließend häufig doch Sympathien für den BDS unterstellt. Das lag nicht zuletzt an der wiederholt von den Kulturmanagerinnen und -managern vorgetragenen Sorge, dass der pauschale BDS-Beschluss des Deutschen Bundestages von 2019 ganz unmittelbar Auswirkungen auf die Kunstfreiheit und Planungsautonomie habe. „Wie hältst Du es mit BDS“ wurde zur Gewissensfrage mit minderer Praxistauglichkeit. Die Antwort war ein in Stein gemeißeltes Schriftstück, das inzwischen als Kampfschrift fungiert – so oder so.

Nachträgliche Bestürzung möge man sich schenken

Bedenkenswerter als die Pfiffe gegen Claudia Roth ist die tiefe Enttäuschung vieler deutscher Juden über die abnehmende Gewissheit, es innerhalb des Kulturmilieus mit Verbündeten zu tun zu haben. Auf fatale Weise hat der deutsch-israelische Soziologe Natan Sznaider recht, der nichts von nachträglichen Entschuldigungen und erschrockenen Bekundungen wie „Das haben wir nicht gewollt“ hält. Zweifellos sei das Bild der indonesischen Künstlergruppe Taring Padi auf der Documenta antisemitisch gewesen. „Aber es ist aufgehängt worden, also müssen wir damit umgehen“, so Sznaider im Interview mit der Berliner Zeitung. „Insbesondere Juden müssen erkennen, dass viele Angehörige der Kulturelite kein Problem in BDS-Positionen sehen.“ Nachträgliche Bestürzung möge man sich schenken.

Natan Sznaider plädiert für mehr Ehrlichkeit in einer Debatte, in der irrlichternde Popstars, spitzfindige Wissenschaftler und unerbittliche Ideologen zuletzt dazu beigetragen haben, dass jüdisches Leben in Deutschland weiterhin bedroht erscheint. Kulturpolitik wird dagegen mehr aufbieten müssen als wohlklingende Ansprachen.