Kommentar zur Pflegereform: Wollt ihr uns veräppeln?

Erst sollen Pflegebedürftige die Tariferhöhung für Pflegekräfte schultern, nun verspricht Lauterbach ein bisschen mehr Pflegegeld. Die Rechnung geht nicht auf.

Für die 25-prozentige Preiserhöhung in der Pflege ist noch sein Vorgänger Jens Spahn (CDU) verantwortlich, nun will Karl Lauterbach (SPD) als Gesundheitsminister Pflegebedürftige mit fünf Prozent mehr Pflegegeld „entlasten“. 
Für die 25-prozentige Preiserhöhung in der Pflege ist noch sein Vorgänger Jens Spahn (CDU) verantwortlich, nun will Karl Lauterbach (SPD) als Gesundheitsminister Pflegebedürftige mit fünf Prozent mehr Pflegegeld „entlasten“. www.imago-images.de

Man muss sich das mal auf der Zunge zergehen lassen. Zum September 2022 hat die Bundesregierung die Löhne für Pflegekräfte deutlich erhöht. Das geschah über die Einführung des allgemeinen Tariflohnes, um den lange gekämpft worden war.

Dazu muss man wissen: Unter den Pflegekräften waren einige lange unterbezahlt, was genauso lange fast niemanden interessiert hat. Erst in der Pandemie wurde deutlich, dass das nicht nur die paar Unglücklichen etwas angeht, die irgendwann mal – hoffentlich nicht! – ins Krankenhaus müssen, oder diejenigen Bedauernswerten, die im hohen Alter und bei Pflegebedürftigkeit nicht mehr zu Hause leben können. Sondern die gesamte Gesellschaft.

Brav wurde nach dieser Erkenntnis vom Balkon geklatscht, allerorten versichert: Die armen Pflegekräfte, was die alles machen, da muss man auch mal was zurückgeben! Getan wurde eher wenig. Der lautstark versprochene Corona-Bonus ging dann doch erst mal nur an ausgewählte Gruppen.

Aber immerhin: Jens Spahn (CDU) als damaliger Gesundheitsminister brachte – gegen starke Widerstände – kurz vor seiner Ablösung durch Karl Lauterbach (SPD) noch die Lohnerhöhung durch. Jetzt dürfen also nicht nur die Heime, Kliniken und Pflegedienste, sondern auch die Familien zu Hause, die eine Pflegekraft in Anspruch nehmen, nicht mehr unter Tarif zahlen.

Widerstand gab es damals unter anderen, weil völlig unklar blieb, wie es sich Familien zukünftig noch werden leisten können, Pflegekräfte für ihre kranken Angehörigen zu finanzieren. Immerhin werden über 80 Prozent der fast fünf Millionen Pflegebedürftigen in Deutschland zu Hause gepflegt und nicht in Heimen. Das wird leider immer wieder vergessen, was sehr merkwürdig ist. Aber auch Heimbetreiber und Arbeitgeber äußerten Bedenken ob der Finanzierbarkeit.

Doch Spahn blieb damals hart: Das sogenannte Gesundheitsversorgungsweiterentwicklungsgesetz (GVWG), verabschiedet 2021, mache „mit höheren Löhnen, mehr Kompetenzen und mehr Kolleginnen und Kollegen“ den Pflegeberuf attraktiver. „Gleichzeitig entlasten wir Pflegebedürftige und ihre Familien in Milliardenhöhe“, sagte der einstige Gesundheitsminister.

Komischerweise kam es nun ganz anders. Ob es an einem Rechenfehler lag, Absicht war oder einfach nur vergeigt, darüber streiten sich die Geister – Tatsache ist: Seit der Einführung der Lohnerhöhung im September zahlen die Pflegebedürftigen selbst die Kosten. Beziehungsweise deren Angehörige. Beziehungsweise das Sozialamt, wenn sonst niemand zahlt.

Die Lohnerhöhungen, für die sich die Politik damals selbst so stolz auf die Schulter klopfte und die als Entlastung nicht nur für die Pflegekräfte, sondern auch die Betroffenen und ihre Familien dargestellt wurde, hat sich in Wahrheit als eine Riesenbelastung für diejenigen herausgestellt, um die es bei dem ganzen Zinnober doch eigentlich gehen sollte: die Pflegebedürftigen. Und da diese sich selten noch selbst um ihre Angelegenheiten kümmern können, sind es mal wieder die Angehörigen, die das schultern müssen. Im Schnitt 25 Prozent mehr Gehalt müssen sie seitdem für die Pflege zahlen. Ganz ohne Vorwarnung und ohne Entlastungsangebote. Einfach so.

Damit man sich das vorstellen kann: Der Köpenicker Ingenieur Jochen Springborn, 54, der seit über 20 Jahren seine an Multipler Sklerose erkrankte Frau pflegt, und über den die Berliner Zeitung exemplarisch berichtete, sollte damals vom einen auf den anderen Monat 1000 Euro mehr für den unterstützenden Pflegedienst zahlen. Viele Heime erhöhten die monatlichen Kosten um 600 Euro oder mehr im Monat. Das können sich nicht viele leisten. Unter anderem auch deshalb gehen wohl gerade viele Heime pleite.

Und als ob die finanziellen wie die organisatorischen und bürokratischen Bürden für pflegende Angehörige in diesem Land nicht schon hoch genug wären, kommt nun noch eine neue Pflegereform - für die auch noch kinderlose Beitragszahler stärker als alle anderen zahlen sollen, was nochmal ein eigenes Thema ist. Natürlich soll diese Reform wieder die Angehörigen entlasten, wie sie es immer soll und dann meist doch nicht wirklich tut.

Tatsächlich ist geplant: Fünf Prozent mehr Pflegegeld soll es geben, gar zehn Prozent mehr Sachleistungen. Bedeutet: Ein Pflegebedürftiger mit Pflegegrad 2 soll ab 2024 etwa 15 Euro mehr Pflegegeld im Monat bekommen, für Pflegegrad 5 gibt es rund 45 Euro mehr oder bis zu 200 Euro mehr für sogenannte Sachleistungen, also den Einsatz von Pflegediensten. Klingt für Fachfremde erst mal gut. 

In der Realität sieht die Sache anders aus. Durch Krieg und politische Maßnahmen sind die Lebenshaltungskosten in Deutschland im vergangenen Jahr deutlich gestiegen. Das betrifft alle Bürger, manche aber mehr als andere. Einige wurden deshalb besonders unterstützt, doch wer wurde wieder einmal vergessen? Die pflegenden Angehörigen. Hoppla.

Dabei ist diese Bevölkerungsgruppe eh schon besonders von Armut bedroht, deutlich mehr als etwa Studierende, die ja meist deshalb studieren, um danach gutes Geld zu verdienen. Pflegende Angehörige haben diese Aussichten nicht, denn viele von ihnen werden über die Pflege selbst krank, arm oder arbeitslos, manchmal alles zusammen. Doch gab es für diese konkrete Bevölkerungsgruppe einen Ausgleich? Komischerweise gar nicht.

Hinzu kommt, dass pflegende Angehörige es an sich haben, dass sie Angehörige zu Hause pflegen. Sie sind deshalb oft den ganzen Tag zu Hause. Die ganzen schönen Tipps, die Angehörigen anderer Bevölkerungsgruppen je nach Gusto oder Brieftasche beherzigen können oder auch nicht, sie sind für pflegende Angehörige kaum zu gebrauchen. Heizung runterdrehen ist für Kranke meist keine so gute Idee, weniger duschen ein Hohn für Bettlägerige.

Kurz gesagt: Diese Bevölkerungsgruppe kann kaum sparen, hat kaum Geld, arbeitet zu Hause fast den ganzen Tag – im übrigen gänzlich ohne Lohn –, bekommt im Gegensatz zu vielen anderen keinerlei Entlastung, zahlt seit September die Lohnerhöhungen für Pflegekräfte, für die sich die Politik in der Pandemie feiern ließ, aus eigener Tasche. Und soll sich nun darüber freuen, dass sie nicht mal die Hälfte der Inflationserhöhung durch eine Pflegereform zurückbekommt?

Nach Adam Riese wäre eine Erhöhung der Pflegekosten von 25 Prozent seit September 2022 plus Inflation plus gestiegene Lebenshaltungskosten ohne jeglichen Ausgleich auch bei einer Erhöhung des Pflegegeldes um fünf Prozent ab 2024 immer noch ein riesiges Minus im Portemonnaie der Betroffenen. Und ach ja: Im Laufe des Jahres 2023 sollen die Tarife in der Pflege noch mal steigen. Ist noch gar nicht eingepreist. 

Lässt man sich all das einmal auf der Zunge zergehen, klingt die Pflegereform gar nicht mehr so schmackhaft wie angekündigt. Sondern ziemlich bitter.


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