Krankenkassen: 2000 Euro Selbstbeteiligung – wofür denn bitte?
Die von einem Wirtschaftswissenschaftler vorgeschlagene Eigenbeteiligung von Patienten widerspricht jeglicher Logik. Ist es ein „Klassenkampf von oben“?

Das ist jetzt wirklich ein starkes Stück. Dieser Vorschlag kann nur von jemandem kommen, der nicht davon weiß oder dem es egal ist, dass eine große Gruppe der Bevölkerung, durchaus auch aus Teilen der Mittelschicht, kaum noch weiß, wie sie sich nach den Belastungen durch Corona und den nun auch noch durch den Krieg gestiegenen salzigen Verbraucher- und Gas- sowie Strompreisen und dann auch noch inmitten einer sich seit vielen Jahren steigernden Mietenkrise überhaupt noch über Wasser halten soll.
Ausgerechnet jetzt verbreitet der Wirtschaftswissenschaftler und Arbeitgeber-Lobbyist Bernd Raffelhüschen via Bild-Zeitung die Kunde: Das Gesundheitssystem könne nur dann gerettet werden, wenn Patienten nicht nur ihre hohen Krankenkassenbeiträge und die zahlreichen Zuzahlungen zu immer mehr Medikamenten, Behandlungen und Hilfsmitteln, sondern auch noch eine Selbstbeteiligung von jährlich bis zu 2000 Euro übernehmen würden. Die Krankenkassen könnten sonst die Kosten nicht mehr stemmen.
Man weiß gar nicht, wo man da anfangen soll. Vielleicht hiermit: Wir leben doch im Kapitalismus. Nach dessen Idee wird Leistung bezahlt – höhere Leistung höher, niedrigere Leistung niedriger. Wie ließe sich also begründen, dass Patienten für immer weniger Leistung immer mehr Geld zahlen sollen?
Es sind ja nicht nur die stetig steigenden Kosten des Gesundheitssystems, die hier auch noch einseitig dem Patienten aufgebürdet werden sollen. Es ist ein völlig marodes Gesundheitssystem, das dem Patienten schon lange nicht mehr als Erstem nutzt, der nun aber als Erstes noch mehr dafür berappen soll. Das widerspricht der Logik.
Nur ein paar Beispiele: In Berlin und anderen Großstädten wartet, wer als Kassenpatient heute einen Facharzt sucht, in vielen Fällen bis zum Ende (!) des Jahres. Ist er Privatpatient, bekommt er binnen weniger Tage oder Wochen einen Termin. Das kann jeder einfach über Doctolib nachprüfen. Zur Kasse gebeten werden für diese himmelschreiend ungerechte Behandlung sollen aber nun nicht die Privat-, sondern die Kassenpatienten. Für welche Leistung noch mal?
Gehen dieselben Patienten, die bei ihrer Facharztsuche mit einem dringlichen Problem, etwa am Herzen, aber nicht neun Monate warten können oder wollen, stattdessen in die Notaufnahme einer Klinik, werden sie womöglich als Ansteller oder Egozentriker verunglimpft, die akuteren Notfällen die raren Plätze und die wenigen helfenden Hände wegnehmen, weil auch in den Ambulanzen Fachkräftemangel herrscht und sie außerdem längst zum Auffangbecken für Menschen mit allerlei Problemen geworden sind, die woanders nicht mehr versorgt werden. Gesundheitsminister Lauterbach hat deshalb kürzlich eine Reform der Notaufnahmen vorgestellt.
Mit der fehlenden Ärzteversorgung und den überforderten Ambulanzen ist es aber noch lange nicht genug, denn Deutschland ist auch das Land, in dem die meisten unnötigen OPs durchgeführt werden, aus rein finanziellen Gründen. Gerade die letzten Monate haben außerdem gezeigt, wie schlecht es um die Kindermedizin gestellt ist, nicht nur in den Kliniken und bei Notfällen, sondern auch schon allein was die Beschaffung simpler Medikamente angeht. Von der Versorgung der Alten, etwa in Heimen, wollen wir an dieser Stelle gar nicht erst anfangen.
Also noch einmal: Wie soll sich unter diesen seit Jahren immer weiter zuspitzenden gravierenden und oft lebensgefährlichen Mängeln in der Gesundheitsversorgung begründen lassen, dass ausgerechnet die Patienten noch deutlich mehr Geld für ihre oft so unzureichende Versorgung bezahlen sollen? Zumal mit einer Verbesserung dieser Versorgung erst mal gar nicht zu rechnen ist. Dafür bräuchte es nämlich grundsätzliche Änderungen des Gesundheitssystems sowie deutlich mehr Personal – beides ist nicht in Sicht, und das obwohl Corona überdeutlich gemacht hat, woran es hier überall krankt und wie wichtig ein funktionierendes Gesundheitssystem für die gesamte Gesellschaft ist.
Man kann nicht immer weitere Belastungen für Bürger akzeptieren, wenn auf der anderen Seite so wenig für die Verbesserung der Versorgung getan wird. Ansonsten wird auf Dauer der soziale Friede gefährdet. Gerade im Gesundheitssystem liegt so viel im Argen, dass weitere einseitige Belastungen von Patienten inakzeptabel sind. Stattdessen könnte man endlich einmal überlegen, ob es fast 100 Krankenkassen braucht, deren zahlreiche Vorstände mit Höchstgehältern finanziert werden.
Diese Frage stellt unter anderem auch der „Verein demokratischer Ärzt*innen“, der sich als oppositioneller Berufsverband versteht, und antwortet auf den Vorstoß Raffelhüschens: „Immer wieder lobbyieren Gesundheitsökonomen gegen solidarische Prinzipien der Gesundheitsversorgung. Wer ... die Debatte verfolgt, kennt diese Formen des Klassenkampfs von oben. Wir halten dagegen und verteidigen das Prinzip der Solidarität der gesetzlichen Krankenversicherung, ... dass eben nicht gefragt wird nach der individuellen und vermeintlichen Schuld an Krankheit oder Verletzung.“ Stattdessen könne eine konsequente solidarische Bürgerversicherung, die alle Einkommen und Einkommensarten in voller Höhe heranziehe, Abhilfe schaffen.
Das wäre womöglich eine Lösung – eine andere wäre: Das Gesundheitssystem komplett neu auf die Füße zu stellen und dabei gezielt nach den vielen Stellen zu suchen, in denen das ganze Geld in einem System versickert, das die Deutschen mit Rekordsummen finanzieren – anstatt die Bürger immer weiter zu belasten, ohne auf Dauer etwas zu verbessern oder auch nur einen menschenwürdigen Standard aufseiten von Personal und Patienten aufrechtzuerhalten.
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