Steinmeier hat der Documenta einen Denkzettel verpasst
Die Documenta steht weiter in der Kritik. Die Rede des Bundespräsidenten sollte man deswegen nicht abtun, sondern ernst nehmen.

Wenn Sonntagsreden aus wohlfeilen Wiederholungen des allseits Bekannten bestehen, dann waren die kritischen Einlassungen, mit denen Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier am Sonnabend die Kunstausstellung Documenta fifteen in Kassel eröffnet hat, keine solche. Eher hat er dem Museum der 100 Tage, das diesmal alles Museale demonstrativ von sich weist, einen Denkzettel verpasst. Aber hat er, wie ihm nun vorgeworfen wird, die Kritik am indonesischen Künstlerkollektiv Ruangrupa, ihrerseits für antisemitische Positionen offene Künstlerinnen, Künstler und Kulturmanager eingeladen zu haben, ungeprüft übernommen und qua Amt nun noch verstärkt?
„Antisemitismus? Fehlanzeige!“ lautete der schnelle Befund zahlreicher Kunstexperten, die sich nach den turbulenten Diskussionen der zurückliegenden Monate anscheinend bei ihren ersten Rundgängen angehalten fühlten, mit Fahnderblick durch die Räume und Außeninstallationen zu laufen. Inzwischen wird weitergesucht. Auf einem Banner des indonesischen Kollektivs Taring Padi scheint man auch fündig geworden.
„Verantwortung lässt sich nicht outsourcen“
Steinmeier aber war keineswegs als Zensor gekommen, und seine ungewöhnlich scharfen Worte richteten sich auch nicht gegen das indonesische Kuratorenkollektiv Ruangrupa. Vielmehr adressierte er die Documenta-Leitung und die kulturpolitisch Verantwortlichen, denen es innerhalb eines halben Jahres nicht gelungen war, sich eindeutig zu den zugegebenermaßen wenig konkreten Vorwürfen zu verhalten. So lautet der Schlüsselsatz in Steinmeiers Rede, in der er die Kunstfreiheit ausdrücklich betont und die Bedeutung des Kuratorenprinzips hervorhebt: „Verantwortung lässt sich nicht outsourcen.“
Tatsächlich aber hatte sich der Eindruck verdichtet, es gehe den Documenta-Vertretern vor allem darum, Lästiges abzuwehren. Zwar hat Generaldirektorin Sabine Schormann eben noch einmal bekräftigt, keinen Einfluss des BDS, der weltweit für einen kulturellen Boykott Israels eintritt und dabei wenig zimperlich vorgeht, vernommen zu haben. Zuvor aber hatte Schormann Fragen zum BDS an die Kuratoren von Ruangrupa apodiktisch untersagt und war dem BDS mit beinahe mildem Verständnis begegnet. Der sei eine „vielschichtige Bewegung“, in der Antisemitismus leider nicht ausgeschlossen sei. Andererseits aber werde die Organisation von vielen Kulturschaffenden unterstützt, was Schormann wohl geneigt war, als Ausdruck von Meinungs- und Kunstfreiheit zu werten.
Der Zentralrat der Juden in Deutschland mit seinem Versuch, diesbezüglich mehr kritisches Bewusstsein anzumahnen, wurde vom politischen Urgestein, dem früheren Finanzminister Hans Eichel (SPD), in einem Beitrag in der Süddeutschen Zeitung verdächtigt, „wohl Einfluss“ nehmen zu wollen. Steinmeiers Rede, die jetzt vorschnell als ein vom Kolonialismus geprägter Paternalismus aufgefasst wurde, bekräftigt vor allem die deutsche Verantwortung bei der erinnerungspolitischen Aufgabe, „die Wunde der Schoah“, wie Steinmeier in Kassel betonte, sichtbar zu halten.
Der Schatten der verkorksten Debatte lässt sich mit einer einfachen Handbewegung nicht vertreiben. Zu unversöhnlich stehen sich Positionen gegenüber, die im akademischen Raum längst zu einer Konkurrenz geführt haben, in der die Erinnerung an kolonialistische Genozide gegen die Einzigartigkeit des Holocaust ausgespielt wird. Eine solche Debatte kann eine Kunstausstellung an ihre Grenzen und darüber hinaus treiben. Wenn Kunst sich jedoch ganz ausdrücklich politisch positioniert, tut sie sich keinen Gefallen, sich mit Verweis auf die Kunstfreiheit gegen Kritik immunisieren zu wollen.