„Meinst du, die Russen wollen Krieg?“ Heutige Gedanken über ein Gedicht

Unterstützung der Ukraine oder Verhandlungen? So steht die Frage nicht. Alle sehnen sich nach Frieden. Doch einfache Losungen haben eine trügerische Verführung.

Zeichen gegen den Krieg und der Solidarität mit dem angegriffenen Land.
Zeichen gegen den Krieg und der Solidarität mit dem angegriffenen Land.Oliver Berg/dpa

Anfangs waren die Zahlen so klein, dass sie auch die Hoffnung transportierten, es könne bald vorbei sein: Das Online-Nachrichtenmagazin The Kyiv Independent beziffert die Tage des Krieges, den Russland gegen die Ukraine führt. Solange sie einstellig waren, hätten die Zahlen auch für einen Warnschuss stehen können, für eine verrückte Idee Putins, der Welt zu zeigen, er habe seine Armee nicht zum Spaß in großen Formationen an der ukrainischen Grenze postiert. Ein Warnschuss mit Toten. Denn wir erinnern uns, nicht nur jene, die heute unter der Bezeichnung „Putin-Versteher“ zusammengefasst werden, haben noch Mitte Februar gesagt, es würde nicht zu einem Einmarsch kommen. Auch für die meisten Putin-Kritiker war die Invasion schwer vorstellbar.

„Meinst du, die Russen wollen Krieg?“ – Mir gingen die Zeilen Jewgeni Jewtuschenkos vor einem Jahr nicht aus dem Kopf. Die Erschütterung durch die Meldungen von den ersten Angriffen bekam den Rhythmus des Gedichts. Doch das Leben hier ging weiter. Am 24. Februar 2022 haben wir in Berlin auch ganz normale Dinge getan, während die Menschen in Kiew oder Mariupol nach Schutz suchten. Dennoch hat der Überfall die Welt erschüttert. Am 27. Februar gingen mehr als Hunderttausend Menschen nach offizieller Zählung allein in Berlin auf die Straße, um Frieden zu fordern, um ein Zeichen zu setzen – in der Solidarität mit der Ukraine. Daran sei erinnert, wenn Frau Wagenknecht und Frau Schwarzer zu einer neuen Demonstration aufrufen.

Als der Newsletter von The Kyiv Independent zweistellige Zahlen brachte, blutete die Hoffnung aus, dass der Krieg schnell vorbei sein könnte. In meinem Kopf wuchsen die Vorwürfe, warum ich so blind gewesen sein konnte, nach Tschetschenien, Georgien, Afghanistan, Syrien. Natürlich wollen nicht „die“ Russen den Krieg. Aber „die“ Russen sind auch ziemlich ruhig geblieben, besser: immer ruhiger geworden. In den ersten Wochen des Krieges gingen noch sichtbar Bewohner des größten Staates in Europa auf die Straße, um ihren Protest gegen die „Spezialoperation“ zu zeigen, sie wurden auseinandergetrieben, Milizionäre nahmen die Personaldaten auf, es gab zahlreiche Verhaftungen. Nicht alle Russen wollen Krieg, es wollen sowieso die meisten Menschen keinen Krieg.

Anfang Januar kam Jan Böhmermann mit seinem Rundfunk-Tanzorchester Ehrenfeld zur Show in die Berliner Max-Schmeling-Halle. Als er, auf der Showtreppe begleitet von vier Männern mit Glitzerjacken, „Meinst du, die Russen wollen Krieg“ sang, wurde mir schwindelig. Die Vertonung des 1961 zur Zeit der Kubakrise und der brenzligen Konfrontation der Blöcke entstandenen Gedichts durch Eduard Kolmanowski konterkariert die melodramatischen Textzeilen. Die singenden Männer auf der Bühne bewegten Arme und Beine wie zum Militärmarsch. Böhmermann hat damit eine ganze Hand in eine wunde Stelle gelegt: Die Verführung durch Musik und Propaganda. Gesungen hat er das Lied nicht nur auf seiner Konzerttour, sondern auch im Studio des „ZDF Magazin Royale“, mit russischen Untertiteln.

„Tag 365 des russischen Krieges gegen Ukraine“, stand bei Kyiv Independent am Donnerstag in der Betreffzeile. Ein ganzes Jahr. Ein gestohlenes Jahr. Ein Jahr, das so viel auch in unserer Gesellschaft verändert hat. Es ist nicht vorstellbar, wie der russische Präsident und seine Ratgeber mit den furchtbaren Folgen leben können, mit den Toten, den für immer Versehrten, den Zerstörungen. Mit einer Folge des Krieges werden sie aber nicht gerechnet haben, dem Selenskyj-Effekt, wie die Politikwissenschaftler Olga Onuch und Henry E. Hale die Identifikation der Bürger des angegriffenen Staates mit der ukrainischen Nation nennen. Unabhängig von ihrer Russisch- oder Ukrainischsprachigkeit sieht sich die Mehrheit stärker vereint als noch vor dem Krieg.

Und die ganze Welt spricht heute über das angegriffene Land, dessen Wahrnehmung lange verdeckt war durch Russland. Schriftsteller und Musikerinnen, Fotografinnen und Theatermacher sind wie Botschafter unterwegs, um die übersehene Geschichte zu beschreiben. Daneben versuchen russische Autoren wie Viktor Jerofejew und Dmitry Glukhovsky, die nicht mehr zurück können, zu erklären, was los ist bei ihnen, Verständnis wecken wollen sie nicht. Wenn in Berlin nun wieder zu einer Friedensdemonstration aufgerufen wird, bauen die Veranstalter einen künstlichen Gegensatz auf: Unterstützung der Ukraine bedeute Krieg, Verhandlungen hießen Frieden. Das ist wie der Widerspruch zwischen Jewtuschenkos friedlichen Worten und der Melodie im Marschtakt. Die Situation ist viel zu ernst, um sie mit einfachen Losungen zu bereinigen.