Ukraine: Wie uns der Krieg zum Bekenntnis zwingt

Beim Streit um die Ukraine, Waffenlieferungen und Krieg prallen unversöhnliche Positionen aufeinander. Warum es fatal ist, wenn es nur noch Pro und Contra gibt.

Eine Fahne mit der Friedenstaube in einem Fenster der ehemaligen Trinitatiskirchruine in Dresden-Johannstadt
Eine Fahne mit der Friedenstaube in einem Fenster der ehemaligen Trinitatiskirchruine in Dresden-JohannstadtZB

Sie haben es wieder getan. In einem in der Wochenzeitung Die Zeit veröffentlichten Appell mit der Überschrift „Waffenstillstand jetzt!“ haben in der vergangenen Woche zahlreiche Intellektuelle, darunter die Schriftstellerin Juli Zeh, der Philosoph Richard David Precht, aber auch Alexander Kluge, Wolfgang Merkel, Svenja Flaßpöhler und Ilja Trojanow dazu aufgefordert, den Ukraine-Krieg durch Verhandlungen zu beenden. Sie hatten dazu weder Amt noch Mandat. Berufen fühlen sie sich, weil sie für sich in Anspruch nehmen, Teil der kritischen Öffentlichkeit zu sein. Sie nehmen also eine vornehme zivilgesellschaftliche Aufgabe wahr, die im wechselseitigen Meinungsfeuerwerk zuletzt eher diskreditiert worden ist.

Einer der Kernsätze ihres Textes lautet: „Die westlichen Länder, die die Ukraine militärisch unterstützen, müssen sich deshalb fragen, welches Ziel sie genau verfolgen und ob (und wie lange) Waffenlieferungen weiterhin der richtige Weg sind. Die Fortführung des Krieges mit dem Ziel eines vollständigen Sieges der Ukraine über Russland bedeutet Tausende weitere Kriegsopfer, die für ein Ziel sterben, das nicht realistisch zu sein scheint.“ Die Folgen des Krieges seien zudem nicht mehr auf die Ukraine begrenzt. Seine Fortführung verursache massive humanitäre, ökonomische und ökologische Notlagen auf der ganzen Welt.

„Sie nehmen nichts wahr. Aber sie sind überzeugt.“

Die Reaktionen darauf waren weniger heftig als bei einem ähnlich lautenden offenen Brief, nach dessen Erscheinen den Unterzeichnern unterstellt worden war, sich arglos bis zynisch über die Bedürfnisse der Ukraine hinwegzusetzen. Diesmal schlug den sehr heterogen zusammengesetzten Unterstützern des Appells mehr Spott als Widerspruch entgegen. „Sie lernen nichts dazu“, kommentierte die FAZ. „Sie nehmen nichts wahr. Aber sie sind überzeugt.“ Besonders bissig war in den sozialen Medien ein satirischer Brief, der an eine fiktive „Liebe Frau Maier“ adressiert war: „Seit Ihr Ex-Gatte wieder gegen Ihren Willen bei Ihnen eingezogen ist, ist es mit der einst herrlichen Ruhe in unserem Wohnhaus vorbei. Rund um die Uhr müssen wir uns anhören, wie Sie laut ,nein‘ schreien und ,helft mir doch!‘ rufen.“ Die Mieter aber helfen nicht, sie fühlen sich belästigt. Die Frau Ukraine, der Ex-Mann Russland – eine schlichte moralische Parabel.

Die abflauende Empörung, in der sich die Befürworter von Waffenlieferungen und jene gegenüberstehen, die wie Precht, Zeh, Kluge und Co. in den Bemühungen um Waffenstillstandsverhandlungen nicht gleich eine Selbstaufgabe der Ukraine sehen, kann als Indiz für die Erschöpfung diskursiver Energien und der Möglichkeiten gesehen werden, anhaltend solidarisch zu sein. Das öffentliche Ringen um das bessere Argument scheint einer starr-agonalen Konstellation gewichen. Doch je länger der Krieg dauert, müssen sich die jeweiligen Lager eingestehen, dass ihr Meinen und Dafürhalten wenig bis keinen Einfluss auf den Fortgang oder eine mögliche Beendigung des Krieges hat. Das aber vermochte die Unerbittlichkeit der Debatte nicht zu mindern.

Der zwanglose Zwang des besseren Arguments

Die gesellschaftspolitische Lagerbildung, die exemplarisch in Form zweier vorangegangener offener Briefe zum Krieg zu beobachten war, hat der Philosoph Gunnar Hindrichs in einem Beitrag der Zeitschrift Merkur unter dem Stichwort der Kriegszivilgesellschaft beschrieben. Der Krieg und das Zivile sind demnach keine voneinander getrennten Sphären mehr. Vielmehr ist ein auffälliger Zwang zur Positionierung sichtbar geworden, in dem es nur noch Pro oder Contra und nichts Drittes gibt. Selbst die Ablehnung des Krieges wird aus solch einer Perspektive als Bekenntnis im Krieg gewertet. „Weil man sich mit seiner Neutralität oder seiner Ablehnung des Krieges weigert, Position im Krieg zu beziehen, lässt man die gerechte Seite in Stich und unterstützt damit die ungerechte. (…) Die Urteilsvorsicht hingegen erscheint als Zeugnisverweigerung, die alte Parole ,Krieg dem Kriege!‘ als Parteinahme für das Unrecht.“ All das, so Hinrichs Schlussfolgerung, führe dazu, dass die Zivilgesellschaft ihre zivile Bestimmtheit widerruft.

Der zwanglose Zwang des besseren Arguments, den Habermas als kontrafaktische Annahme jeglicher Sprecherposition postulierte, stand stets in Verdacht, einer frommen Kirchentagsrhetorik das Wort zu reden. Dabei sind Polemik, Witz, Übertreibung und Zuspitzung seit jeher die Würze eines fruchtbaren Streits. An dessen Stelle aber sind pure Bekenntniswut und erbärmliche Triumphe des Diskursauschlusses getreten. Wo es eben noch hieß: Wir müssen reden!, macht sich das Bedürfnis breit, es lieber zu lassen.