Zeitenwende - die Freiheit zum Verzicht
Nach der Ausrufung der Zeitenwende scheint alles so weiterzugehen wie zuvor. Dabei käme es gerade jetzt darauf an, ein modernes Krisenbewusstsein zu entwickeln.

Der Vorschlag, einer sich verschärfenden Energiekrise mit der Einrichtung winterlicher Wärmestuben zu begegnen, stieß vermutlich deshalb auf große Resonanz, weil darin weitgehend verloren gegangene Vorstellungen von Gemeinschaft aufschienen. Man malt sich sogleich eine Szene mit einer einsamen Rentnerin aus, in der diese ihre 17 Grad kühle Kemenate am Morgen verlässt, um sich für ein paar Stunden unter Gleichgesinnten einer wohligen 19 hinzugeben. Der spöttische Ton ist natürlich unangebracht, die Skepsis gegenüber der Effizienz einer derart erzeugten sozialen Wärme aber bleibt.
Die Metapher der Stube ist denn auch eher Ausdruck der Hilflosigkeit des politischen Handelns angesichts einer Krise, deren ganzes Ausmaß trotz aller Dringlichkeit kaum zu erfassen ist. Zum Drama des gesellschaftlichen Befindens gehört zudem das Paradox, es derzeit mit mindestens zwei miteinander kollidierenden Krisenerzählungen zu tun zu haben. Während sich wärmende Gemeinschaftsräume als Baustein zu einer Linderung der Energiekrise vielleicht verwenden ließen, würden diese in der immer noch grassierenden Corona-Pandemie das Problem rasant steigender Infektionen noch potenzieren.
Habeck und das Drama in den Sprechpausen
Das Beispiel verdeutlicht das Dilemma, in dem sich die Prozesse politischer Entscheidungsfindung gerade vollziehen. Das Verhalten, mit dem einem mutmaßlich eintretenden Ernstfall zu begegnen sei, schwankt derzeit zwischen Panik und Selbstberuhigung. Tatsächlich scheinen wir uns in einer Zeit der Entscheidung ohne verlässlichen Kompass zu befinden. Diese spiegelt sich in den unterschiedlichen Reaktionsweisen des politischen Personals.
Während Bundeskanzler Olaf Scholz in fragiler Wartestellung verharrt und die Erfahrung einer kontinuierlichen gesellschaftlichen Entwicklung trotz der Akklamation einer Zeitenwende nicht preisgeben will, bringt Robert Habeck das Drama der Ambivalenz bereits durch das gekonnte Setzen von Sprechpausen zum Ausdruck. Unterdessen bildet Finanzminister Christian Lindner die von narzisstischen Energien getriebene Hybris postmoderner Arglosigkeit ab. Im jeweiligen Agieren der Parteispitzen lässt sich das Finale einer steilen Geschichte des Aufstiegs und der Prosperität ebenso beobachten wie das Ringen um Transformation.
Um zu verstehen, wohin die Reise gehen kann, bedarf es kritischer Rückbesinnung. In seiner Studie über „Verbot und Verzicht“ hat der Berliner Politikwissenschaftler und Ökonom Philipp Lepenies soeben anschaulich dargestellt, wie sehr die Möglichkeiten staatlicher Steuerung in den zurückliegenden Jahrzehnten durch die Ideologie des Neoliberalismus diskreditiert wurden. Diese habe, so Lepenies, den Kampf um die Seelen gewonnen. Wo immer über staatliche Reform- und Regulierungsversuche debattiert wird, sei es im Bereich der Digitalisierung oder den Herausforderungen der Klimapolitik, wird sie sogleich als unzulässiger Eingriff in individuelle Freiheitsrechte diffamiert. Die vorherrschende Erwartung an den Staat bestehe darin, von ihm in Ruhe gelassen werden zu wollen.
Lepenies zeichnet die fatale Entwicklung zu einer Politik des Unterlassens nach, in der sich Politiker, die ihre Chancen auf Wahl und Wiederwahl zu sichern versuchen, an eine neoliberale Staatsfeindschaft weitgehend angepasst haben. Mit dem britischen Soziologen Colin Crouch spricht er von einer „Kommerzialisierung der Staatsbürgerschaft“. Obwohl in der Energie- und Klimapolitik ein Tempolimit auf Autobahnen als adäquates Mittel zur Schonung von Ressourcen weitgehend anerkannt ist, triumphiert selbst in der sich verschärfenden Krise die Aufrechterhaltung eines falsch verstandenen Ideals von individueller Freiheit.
Verzicht auf Kontrolle
Zu den Herausforderungen der kommenden Monate und Jahre wird es gehören, das weitverbreitete Misstrauen in einen gängelnden Staat in ein Modell der Partizipation zu verwandeln, mit dem man in der Lage ist, zwischen Verbot und Freiheit zum Verzicht zu unterscheiden. Die Leistungsfähigkeit des modernen Staates besteht ja gerade darin, auf vollständige Kontrolle zu verzichten und die Potenziale der Differenzierung zu nutzen.
Es gibt, mit den Worten des Münchener Soziologen Armin Nassehi, kein gesellschaftliches Handeln aus einem Guss. Der Markt lebt von unternehmerischen Entscheidungen, der Staat organisiert die Gewaltenteilung und integriert die Opposition. In der Wissenschaft, so Nassehi, gebe es keine letzte Erkenntnis, und die Kirchen könnten kaum anders, als andere Religionen als solche anzuerkennen. Modernität ist durch den Verzicht auf Absolutheitsansprüche gekennzeichnet. In der Krise kommt es darauf an, sie zu beweisen.