„Hey, na.“ „Seid ihr gut durchgekommen?“ „Mensch, habt ihr das schön hier.“ „Kommt, wir gehen erst mal hoch und trinken was!“ Ich stehe daneben, während meine Eltern dem Besuch von weit her das Gästezimmer zeigen. Heute Abend wird es zwei Ufer geben.
Eines feucht-fröhlich, ausgelassen, kommunikativ und zunehmend albern. Und meines. Nachdenklich, still, ängstlich – und trocken.
Dass ich dem Alkohol abgeschworen habe, ist nun schon mehr als sechs Monate her. Seitdem habe ich viele dieser Abende erlebt. Abende, an denen ich meine Unsicherheiten nicht im Hopfenfeld verstecken konnte, in denen meine Kommunikation nicht hinter Reben hervorschoss. Soweit alles ganz normal. Bis hier könnte man das hier für den nächsten Abstinenzbericht eines spätberufenen Konvertiten halten, zwischen dessen Zeilen der berühmte erhobene Zeigefinger doch immer hervorragt.
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Alkoholiker, wie soll das denn gehen, in deinem Alter?
Sage ich dazu, dass ich ein Alkoholproblem hatte, bewegen wir uns zumeist auch noch in einem Rahmen, der zumindest immer mehr in den sozialen Diskurs gerät. Spätestens seit dem Erscheinen von Kurt Krömers aktuellem Buch ist das Thema so sehr in der Mitte der Gesellschaft besprochen, wie es schon seit Jahrzehnten existent ist.
Aber das hier scheint für viele noch ein anderes Geschmäckle zu haben. Also: Hallo, ich bin Marlon, ich bin 18 Jahre alt und ich bin Alkoholiker.
Vor ein paar Monaten erschien in der Berliner Zeitung ein Artikel mit dem Titel „Saufen ist kein Grundrecht“. Als dieser Artikel erschien, war ich gerade in einer psychosomatischen Klinik. Dass der Alkohol in meiner Krankheitsgeschichte eine ähnlich große Rolle spielen würde wie die Depression, die ich seit ein paar Jahren mit mir herumschleppe, war für mich eine ziemliche Neuigkeit.
Von den selbst ernannten Erwachsenen bekomme ich, immer wenn ich das erzähle, ziemlich ungläubige Blicke. „Wie soll denn das gehen, in deinem Alter.“, „Haben wir in der Gesellschaft nicht alle ein Alkoholproblem?“ und „Naja, dann tritt halt jetzt ein bisschen kürzer und dann kannst du ja in ein paar Monaten weitersehen …“ sind meine liebsten Sätze aus den unausweichlichen, weil omnipräsenten Dialogen. Ratschläge sind auch Schläge.
Für den ersten Rausch gibt es ein Schulterklopfen von Papa
Tatsächlich ist das Thema Alkoholismus in der Jugend eines, das in der Opium-fürs-Volk-Diskussion nur eine untergeordnete Rolle spielt. Vielleicht, weil es für eine ältere Generation verstörend ist, sich mit den Auswirkungen des eigenen Trinkens auf die Jüngeren auseinanderzusetzen.
Jung sein, was heißt das eigentlich? Regeln brechen, vielleicht. Auf jeden Fall aber Grenzen austesten, sich selbst kennenlernen, herausfinden, wo man stehen möchte, politisch, persönlich, gesellschaftlich. All diese Dinge sind, wenn Sie einmal darüber nachdenken, in der deutschen Gesellschaft mit Alkohol assoziiert.
Das erste Bier als Initiationsritual, der Du-bist-jetzt-erwachsen-Schnaps, der erste Vollrausch wird mit einem väterlichen Schulterklopfen kommentiert. Warum? Weil Papa ja auch mal wild war. All das ist selbstverständlich und vielleicht sollte es das auch sein. Über dem Schellfischposten in Hamburg hängt ein Schild mit der Aufschrift „Ob jung, ob alt, ob arm, ob reich, am Tresen sind sie alle gleich“. Im Umkehrschluss also: Wer nicht trinkt, ist anders.
Jugend bedeutet allerdings auch Unsicherheit. Unsicherheit mit dem eigenen Außen, dem eigenen Innen, dem Platz, den man vermeintlich einnimmt, und dem, den man tatsächlich einnimmt.
Drei Bier reichen, um zu John Travolta zu werden
Eine der vielen, gut erforschten Wirkweisen von Alkohol ist die der Stimmungsverstärkung. Egal was man vorher war, man wird es mehr. Weniger sensibel, weniger Herr der Muttersprache, aber emotionaler. Ist man in Feierlaune, aber traut sich nicht zu tanzen, reichen drei Bier, um zu John Travolta zu werden. Wer sich nicht traut, seine Meinung offen zu sagen oder seine Gefühle zu äußern, verwandelt sich mit zwei Korn in Giovanni di Lorenzo. Und da alle anderen ja auch besoffen sind, bemerkt niemand, dass diese Selbsteinschätzungen nicht der Realität entsprechen.
Ich habe mich auf den geschilderten Weg begeben. Gern gebe ich zu, dass bei mir soziale Ängste, Selbstzweifel und Stressanfälligkeit krankheitsbedingt stärker ausgeprägt sind als bei vielen anderen, gesünderen jungen Menschen. Aber das bedeutet nicht, dass sie nicht vorhanden sind.

Ich habe getrunken, um sprechen zu können, habe getrunken, um zu tanzen, irgendwann habe ich sogar getrunken, um mich mit Menschen umgeben zu können. In meiner frühen Jugend schon immer wieder mit Menschen, die wohl rückblickend nicht gut für mich waren.
Als dann das Abitur begonnen hatte, als aus den älteren Freunden gleichaltrige wurden, als die Partys häufiger und der Selbstwert geringer wurde, als die Pandemie uns zwang, sozialen Austausch auf Bildschirm und Headset anstatt auf Engtanz und den Austausch von Körperflüssigkeiten zu beschränken, erhielt der Alkohol noch eine andere, dunklere Bedeutung in meinem Leben.
Als die Kneipen wieder öffneten, ging es bergab
Ich trank nicht mehr, weil ich nicht unter Menschen gehen konnte, sondern weil ich nicht mehr unter Menschen gehen durfte. Trafen dann mal Kleingruppen aufeinander, mussten auch diese Momente mit Alkohol verstärkt werden, schließlich waren sie so selten, so kostbar.
Als die Kneipen wieder öffneten, ich meinen zweiten Anlauf zum Abitur machte und dachte, ich sei der Depression von der Schippe gesprungen, ging es bergab. Hier wurde aus dem Jungen, der hin und wieder mal einen über den Durst trank ein Eins-a-Säufer. Kneipe erst an den Wochenenden, aus Freitagen wurde der Vize-Freitag, das Wochenende wurde ausgeweitet auf Montage, Dienstage, nur noch eine Woche, nächsten Monat aber mal ruhiger machen, ach, gerade schmeckt es mir so gut und nach meinem Geburtstag, nach ihrem Geburtstag, nach den Sommerferien wird es weniger. Doch das wurde es nicht.
Inzwischen habe ich, wie eingangs schon erwähnt, einen Ausweg aus diesem Tunnel gefunden. Wäre ich nicht so schwer depressiv gewesen, hätte ich das wahrscheinlich nicht geschafft. Hätte man mir in der Klinik nicht gesagt, dass ich so nie gesund werde, würde ich heute immer noch morgens um sechs die Köpenicker Bahnhofstraße heruntertaumeln, aus dem Tröster, meiner Stammkneipe, gekippt.
Ich möchte Ihnen sagen, dass ich nicht glaube, die Welt wäre eine bessere, wenn keiner trinken würde. Ich glaube, dass das Kulturgut Alkohol auch in der Adoleszenz eine wichtige Rolle spielt, wir es kennenlernen und es genießen dürfen. Alles, was ich will, ist, dass hin und wieder ein achteckiges Schild an der Bierrutsche ins Erwachsenenleben steht. Stopp: Lebe nicht, um zu trinken. In Zukunft möchte ich gern mehr derartiges Schreiben. Den nüchternen Blick auf die um mich befindliche Jugend werfen.
Ich ziehe mir jetzt ein frisches Hemd an und gehe zur Pool-Party einer ehemaligen Klassenkameradin. Ich hab mir vielleicht das Abi versoffen, aber mehr bekommt der Alk nicht von mir. Auf dass an die 20 Gin-Tonic-Gläser heute Abend auch eine Cola-Dose anstößt.
Marlon Mommert lebt in Köpenick. Für die Behandlung seiner Erkrankung hat er sein Abitur unterbrochen. Unter dem Künstlernamen Hutmacher macht er nebenbei Musik.
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