Am Anfang moderner Stadtentwicklung stand die Cholera

Unterm Pflaster liegt das, was eine Stadt ausmacht. Und das haben wir viel zu sehr vernachlässigt.

Sieht keiner, braucht jeder: Abwasserkanal im Untergrund einer Stadt.
Sieht keiner, braucht jeder: Abwasserkanal im Untergrund einer Stadt.imago / Rupert Oberhäuser

Eingangs seines Roman „Afterdark“ blickt der japanische Autor Haruki Murakami aus der Vogelperspektive auf das Urbane. „Aus dieser Höhe wirkt die Stadt wie ein riesiges Lebewesen. Oder wie eine künstliche Ansammlung unendlich vieler ineinander verschlungener Existenzen. Zahllose Adern reichen bis in die entlegensten Zonen dieses Organismus, lassen sein Blut zirkulieren und tauschen unablässig die Zellen aus.“ Gleichsam nebenher macht er damit klar, dass viele Selbstverständlichkeiten des städtischen Lebens am seidenen Faden eines ausgeklügelten Systems technischer Voraussetzungen hängen.

Und Hermann Hesse wies schon 1910 in der Kurzgeschichte „Die Stadt“ auf etwas Ähnliches hin. Auf wenigen Seiten entwarf der Nobelpreisträger darin eine rasante Entwicklungsgeschichte, die zugleich das Fundament aller städtischen Zivilisation beschreibt. Nämlich die Infrastruktur, also das Wege- und Verkehrsnetz der Menschen und Dinge als eigentliches Betriebssystem von Handel und Wandel. Denn es sind die Straßen, die Wasserversorgung, Elektrizität, Eisenbahn, Tram und Metro, das Telefonnetz und auch das Internet, die eine Stadt hervorbringen, indem sie den Austausch in ihrem Inneren und mit ihrer Umgebung ermöglichen.

In gewisser Weise kann man sagen, dass die Angst vor der Cholera so etwas wie den Beginn moderner Stadtentwicklung markiert. Seit den 1830er-Jahren überzog sie Europa, trat zumeist und zuerst in den dicht besiedelten Armenvierteln auf, wie erste Überblickskarten über Sterbefälle belegten, machte aber hier nicht Halt.

Benebelt und berauscht vom Abfall

Dementsprechend wurde die Stadt im 19. Jahrhundert weithin beschrieben: Müll und Dreck allenthalben. Und Gestank: intensiv, atemraubend. Fasziniert und angeekelt seien die bürgerlichen Betrachter von den Zuständen in den städtischen Vierteln der Armen gewesen. Benebelt und berauscht vom Gestank des Abfalls und der Kloaken verschwamm im bourgeoisen Blick aufs Volk die Topografie der Quartiere mit der Moral ihrer Bewohner. Von Arbeit und Armut über den Schmutz zum Laster – eine semantische Kette. Man muss kein Anhänger Freud’scher Ideen sein, um die Beschreibungen vom konkreten und moralischen Dreck, „von Sündenpfuhlen und Senkgruben des Lasters“ in Zusammenhang mit der Körperfeindlichkeit der bürgerlichen Klassen zu bringen. Die „lower parts of town“ korrespondieren mit den menschlichen „lower parts“.

Aber irgendwann mündete dies auch in gezielte – kommunale wie staatliche – Interventionen. Die Stadt von ihren Abwässern zu befreien, das war (und ist) so notwendig, wie es zugleich den zentralen Innovationsschub Mitte des 19. Jahrhunderts darstellte.

Abwasserpumpen machten die moderne Stadt erst möglich

In Berlin etwa mit dem Plan von James Hobrecht, wobei dessen wohl wichtigste Voraussetzung die Entwicklung einer leistungsfähigen Pumpentechnik zum Absaugen des Grundwassers darstellte. Der Effekt aber war nicht nur technisch vorbildlich, sondern auch politisch: Denn die Übernahme dieser zweiten stadttechnischen Verantwortung nach der Bündelung der Gasversorgung in den 1840er-Jahren (man nannte das seinerzeit das „öffentliche Erleuchtungswesen“) hat zur Emanzipation der Stadt im Verhältnis zum (preußischen Obrigkeits-)Staat entscheidend beigetragen.

Ein Quantensprung, der bis heute nachwirkt. Stadttechnische Systeme zur Wasser- und Stromversorgung, zur Abwasserentsorgung oder zur Fernwärmezuleitung machen das Wohnen und Arbeiten, das kreative und produktive Element der modernen Stadt erst möglich. Über Jahrzehnte ausgebaut, ausdifferenziert und perfektioniert, hat das dazu geführt, dass im Adersystem unserer Städte ein gewaltiger Berg an Geld gebunden ist. Allerdings wirkt es weithin auch wie „totes Kapital“: strukturell vernachlässigt, stellenweise runtergekommen, irgendwie ungeliebt. Vielfach hält man es für ein Derivat, etwas Überkommenes, das im Hightech-Zeitalter seltsam antiquiert erscheint. Doch das ist falsch: Es ist erneuerungsbedürftig, aber alles andere als obsolet.

Man kann das Gerüst der Stadt holzschnittartig in drei Kategorien unterteilen. Doch während die Bedeutung der sozialen Infrastruktur – von Schulen zu Senioreneinrichtungen, vom Kindergarten zum Krankenhaus, vom Spielplatz zum Schwimmbad – und des Grüns (in Form von Parks, Gärten und auch Laubenpieperkolonien) unmittelbar einsichtig ist, wird die Relevanz von grauer, also technischer Infrastruktur für das Urbane häufig verkannt. Das wäre endlich geradezurücken.

Bis weit in die jüngere Geschichte hinein hat sich die Stadt gegen das Land definiert: Sie war der Ort, an dem die neu gewonnene Unabhängigkeit von den Widrigkeiten der Schöpfung gelebt werden konnte. In der Stadt lässt sich sprichwörtlich die Nacht zum Tag machen, weil sie zu einer Art Maschine wurde, die den einzelnen davon befreit, den eigenen Kot fortzuschaffen, Wasser am Brunnen zu holen, die Kranken zu pflegen und den eigenen Lebensrhythmus dem Wetter anpassen zu müssen. Sie entlastet von bestimmten Arbeiten und von Verantwortung, gibt dadurch Freiheit für andere, selbst gewählte Aktivitäten im Beruf, im Verein oder für Faulenzerei. Das ist die progressive Logik der Technisierung und Rationalisierung der urbanen Haushaltsführung. Und das ist auch die historische Leistung einer immer ausgefeilteren Stadttechnik.

Stadttechnik und Städtebau bedingten einander 100 Jahre lang

Seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde diese Stadttechnik massiv ausgebaut, wie zugleich auch die Rohrpost und der öffentliche Nahverkehr. Dabei ist die Entwicklung moderner Urbanität ohne Elektrizität undenkbar. Die Stromversorgung revolutionierte die Produktion in den Industriemetropolen wie auch den gesamten Großstadtverkehr. Letzteres kommt immer dann unsanft zu Bewusstsein, wenn S- oder U-Bahn-Strecken vorübergehend außer Betrieb gesetzt werden müssen. Elektrizität ist überall verfügbar, aber wie sie hergestellt wird und wie sie von der Produktion bis zur Steckdose gelangt, ist kaum jemandem geläufig.

Über ein Jahrhundert lang bedingten Stadttechnik und Städtebau einander. Die Entwicklung des einen Bereichs wäre ohne die des anderen nicht möglich gewesen. Auch der „civil engineer“ spielt eine entscheidende, doch irgendwie ambivalente Rolle. Einerseits wird kaum einem anderen Fachmann eine so große Kompetenz zugebilligt, dass seine Arbeit quasi jeder öffentlichen Anteilnahme und Diskussion entzogen ist. Andererseits wird er gerade deswegen auch misstrauisch beäugt – weiß man doch nie so recht, was da gerade wieder in der Erde verbuddelt wird, und warum. Anhand der Medien Wasser, Abwasser, Strom und Gas lassen sich noch heute Voraussetzungen, Abläufe, Maßnahmen und – im Wortsinne – „Untergründiges“ der Stadtentwicklung veranschaulichen. Mitunter euphemistisch als „unsichtbare Intelligenz unserer Städte“ bezeichnet, haben diese Erschließungsanlagen immerhin eine längere Lebensdauer als die Wohnbebauung, als Schulen, Büros und Amtsstuben. Aborte und Kanalquerschnitte, Gaslaternen und Stromnetze, Absatzbecken und Pumpwerke, Schwemmkanalisation und Aufbau der Radialsysteme: Das sind entscheidende Schlagworte nicht bloß in der Geschichte, sondern auch für die Zukunft der Stadt.

Gewaltige Kosten für die leeren Stadtkassen

Lange haben es die Kommunen verdrängt, schamhaft verschwiegen oder für irrelevant erklärt: Den Städten drohen heute und absehbar gigantische Kosten aus dem Erneuerungsbedarf der Infrastruktur. Insbesondere der Straßen und der Leitungsnetze für Trink- und Abwasser, Fernheizung, Strom. Mittlerweile aber wird nicht mehr in Zweifel gezogen, dass in den nächsten Jahren die bestehenden Einrichtungen instand gesetzt werden müssen. Dahinter steht eine selbst für Laien leicht nachvollziehbare Kosten-Nutzen-Abwägung. Zum einen produzieren die für hohe Beanspruchung ausgelegten Leitungsnetze bei Unternutzung (etwa durch kleinere Haushalte oder in ausgedünnten Siedlungsgebieten) exponentiell steigende Unterhaltungskosten. Zum anderen wachsen sich insbesondere überproportionale Wärmeverluste, Verstopfung, Verkeimung und Reparaturanfälligkeit der Leitungen zu wahren Kostentreibern aus. Implizit geht es damit auch um Antworten auf die Frage, wie eine ökologisch wie ökonomisch erforderliche „Mehrfachnutzung“ von Energie, Wasser, Abwasser und Müll aussehen kann – oder gar muss.

Mit Blick auf die Herausforderung der leeren Gemeindekassen, des demografischen Wandels und der drängenden Herausforderungen des Klimawandels erhält die infrastrukturelle Komponente der Stadtentwicklung eine völlig neue Bedeutung. Sie wird aber zu wenig ernst genommen. Oder anders herum: Das Urbane verliert ohne Stadttechnik rasant an Funktion und Attraktivität. Obgleich sie in ihrer Bedeutung kaum zu überschätzen ist, spielt sie in der öffentlichen Wahrnehmung so gut wie keine Rolle. Und wenn, dann eine negative: Es stinkt, funktioniert mal wieder nicht etc. Sie ist teuer und komplex, aber nicht sexy. Zudem droht sie vom Hype um Digitalisierung und „smart grids“ vollständig überdeckt zu werden. Aber die unsichtbare Intelligenz der Stadt basiert auch weiterhin auf harten Infrastrukturen: Ohne sie ist selbst eine „smart city“ nicht zu haben.

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