Konflikt um Bergkarabach: „Die internationale Solidarität ist begrenzt“

Vermeintliche aserbaidschanische Umweltaktivisten blockieren seit Dezember die einzige Verbindung zwischen Armenien und Bergkarabach. Eine humanitäre Krise droht.

Armenien: Spannungen am Latschin-Korridor, der Verbindung nach Bergkarabach 
Armenien: Spannungen am Latschin-Korridor, der Verbindung nach Bergkarabach Itar-Tass/imago

Im September 2020 brach der Krieg um die Region Bergkarabach zwischen Armenien und Aserbaidschan erneut aus. Bergkarabach ist eine mehrheitlich von Armeniern bewohnte Region, die im September 1991 ihre Unabhängigkeit ausrief. Da der sowjetische Diktator Stalin das Gebiet aber zu Sowjetzeiten der Aserbaidschanischen SSR zugeschlagen hatte, gehört es laut internationalem Völkerrecht der Republik Aserbaidschan an.

Seitdem verteidigen die Bergkarabach-Armenier Seite an Seite mit der Republik Armenien ihr Territorium gegen Aserbaidschan, das seinen Anspruch seinerseits nicht aufgeben will. Was folgte, waren jahrzehntelange Kriege und militärische Auseinandersetzungen zwischen Armenien und Aserbaidschan. Armenien schaffte es über fast dreißig Jahre hinweg, Bergkarabach zu verteidigen – bis zum September 2020, als das hochgerüstete Aserbaidschan mithilfe modernster militärischer Ausrüstung aus der Türkei und den im Ukraine-Krieg hochgelobten türkischen Bayraktar-Drohnen weite Teile Bergkarabachs erobern konnte.

Seitdem gilt ein fragiler Friedensvertrag, den Russland mit beiden Parteien ausgehandelt hat. Die Teile von Bergkarabach, die Aserbaidschan mit Gewalt erobern konnte, fielen laut Friedensvertrag an Aserbaidschan, ebenso wie die umliegenden Provinzen, die Armenien in der Vergangenheit einen Zugang zu Bergkarabach ermöglichten. Nur das Kernland Bergkarabachs um seine Hauptstadt Stepanakert blieb unter armenischer Kontrolle.

Die einzige Straße, die Armenien und Bergkarabach nun verbindet, ist der Latschin-Korridor, der per Vertrag von russischen Friedenstruppen gesichert wird. Schon kurz nach der Unterzeichnung des Friedensvertrages wurden Sorgen in Armenien laut, dass der schmale Latschin-Korridor, der Bergkarabach mit der Außenwelt verbindet, zur Achillesferse für die in Bergkarabach lebenden Armenier werden könnte.

Würde der Korridor besetzt oder beschossen, wäre die Versorgung der 120.000 Menschen in Bergkarabach nicht mehr möglich. Die armenischen Sorgen waren nicht grundlos. Am 12. Dezember 2022 besetzten aserbaidschanische selbst erklärte Ökoaktivisten den Latschin-Korridor. Seitdem sind Bergkarabach und seine Einwohner von der Außenwelt abgeschnitten.

Unter dieser vollständigen Blockade sind sowohl die Einfuhr von Lebensmitteln und Medikamenten als auch der Transport, beispielsweise von Kranken, aus Bergkarabach heraus unmöglich. Schnell forderte die komplette Blockade Bergkarabachs ihre ersten Todesopfer. Dabei sind die Umstände der Blockade gleichermaßen bizarr und schockierend.

Latschin-Korridor blockiert

Aserbaidschan, das mithilfe von Petrodollars innerhalb kürzester Zeit unheimlichen Reichtum erlangen konnte und seit seiner Unabhängigkeit autoritär vom Alijew-Clan regiert wird, war zuvor weder für zivilgesellschaftlichen Aktivismus geschweige denn für Umweltaktivismus bekannt. Dennoch erklärte die Regierung, dass sie keinen Einfluss auf die Aktivitäten der Ökoaktivisten am Latschin-Korridor habe. Angeblich protestieren die Umweltaktivisten am Latschin-Korridor gegen den armenischen Bergbau in Bergkarabach.

Wie sehr sich die selbst erklärten Ökoaktivisten für den Umweltschutz interessieren, wird wohl am besten durch eine Szene verbildlicht: Eine dieser vermeintlichen Ökoaktivistinnen – schick in einen Pelzmantel gekleidet – hielt als Zeichen des Friedens mitten in der Nacht eine weiße Taube in die Luft, um diese dann fliegen zu lassen. Doch da die selbst erklärte Umweltschützerin wohl vergessen haben muss, dass Tauben nachts ungern fliegen, starb das arme Tier vor Schreck direkt in ihrer Hand.

Mit jedem Tag der Blockade wurde klarer, dass es sich bei den Blockierern weder um Zivilisten noch um Umweltaktivisten handeln kann. Mittlerweile ist davon auszugehen, dass es sich bei den Demonstranten wahrscheinlich um den aserbaidschanischen Geheimdienst, Sicherheitskräfte und die Armee in Zivil handelt. Diese Vermutung bestätigte sich vor wenigen Tagen, als es am Latschin-Korridor ungewöhnlich kalt war und die „Umweltaktivisten“ auf einmal durch die aserbaidschanische Armee und Sicherheitskräfte ersetzt wurden.

Wenig verwunderlich ist auch der Zeitpunkt der aserbaidschanischen Blockade, der alles andere als zufällig ist. Russland gilt als Armeniens Schutzmacht. Da Russland nun erheblichen Truppen- und Militärbedarf für seinen Krieg in der Ukraine hat, kann es sich kaum mit anderen außenpolitischen Themen befassen, schon gar nicht militärischer Natur. Armenien ist also momentan auf sich allein gestellt. Als weiterer Verbündeter Armeniens gilt der Iran. Aber auch der Iran ist außenpolitisch isoliert und das Regime mit der Niederschlagung der innenpolitischen Proteste gefordert.

Armenien steht also aktuell so allein da wie selten zuvor in seiner Geschichte. Aserbaidschan nutzt gezielt die gelähmten Fähigkeiten Russlands und Irans im Südkaukasus aus, um seine außenpolitische Agenda zusammen mit seiner Schutzmacht, der Türkei, voranzubringen. Doch was genau ist das Ziel? Momentan ist noch nicht genau erkennbar, welche Ziele sich Aserbaidschan mit seiner Blockade gesetzt hat. Hierbei sind drei Szenarien möglich.

Was erhofft sich Aserbaidschan?

Das erste Szenario bestünde darin, dass Aserbaidschan mit der andauernden Blockade von Bergkarabach den armenischen Premierminister Nikol Paschinjan in die Knie zwingen und einen möglichst vorteilhaften Friedensvertrag für die aserbaidschanische Seite aushandeln möchte. Unter Androhung der schrittweisen Vertreibung und Vernichtung der Karabach-Armenier könnte sich Aserbaidschan erhoffen, dass Armenien bei einem aufgezwungenen Vertrag möglichst vielen von Aserbaidschans Forderungen zustimmt. Es könnte dem aserbaidschanischen Präsidenten Ilham Alijew also darum gehen, sich eine möglichst vorteilhafte Verhandlungsposition unter Androhung einer ethnischen Säuberung Bergkarabachs zu verschaffen.

Zu den wichtigsten Forderungen Aserbaidschans gehört eine Verbindungsstraße zwischen der aserbaidschanischen Exklave Nachitschewan und dem aserbaidschanischen Kernland, die über international anerkanntes armenisches Territorium führen würde. In Armenien sieht man diesen im Aserbaidschanischen „Sangesur“ genannten Korridor als eine schrittweise Annexion von Südarmenien, das in der nationalistischen aserbaidschanischen und türkischen Propaganda schon des Öfteren als „eigentlich türkisches“ Gebiet bezeichnet wurde.

Die Lage des christlichen Armenien, das mit Russland verbrüdert ist, widerstrebt schon seit Langem den großtürkischen Ambitionen. Die Türkei strebt eine Vorreiterrolle in Vorder- und Zentralasien an und möchte die Schutzmacht der türkischen Völker werden, die von der Westtürkei über Nordzypern und den Kaukasus bis nach Zentralasien verbreitet leben.

Zur praktischen Umsetzung dieser imperialistischen türkischen Ideen gehört der Aufbau von Straßen- und Schienenwegen, Häfen und Handelszentren, die sich von der Türkei bis nach Zentralasien erstrecken sollen. Doch was eine direkte Verbindung der Türkei und Aserbaidschans verhindert, ist das kleine Armenien, dessen Grenzen zur Türkei und zu Aserbaidschan geschlossen sind. Der Sangesur-Korridor könnte das Problem aus aserbaidschanischer und türkischer Sicht beheben.

In einem zweiten Szenario wäre es denkbar, dass Aserbaidschan an seiner Schlinge um Bergkarabach so lange festhält, bis die armenische Bevölkerung nach und nach in Angst und Panik verfällt. Angesichts der drohenden Vernichtung könnte Aserbaidschan den Armeniern ein Ultimatum zur Flucht aus Bergkarabach stellen. Mit dem Ziel, dass eine möglichst große Anzahl Armenier Bergkarabach verlässt, könnte Aserbaidschan die Grenzen in Richtung Armenien öffnen, um dann das Territorium von Bergkarabach einzunehmen und es in den aserbaidschanischen Staat einzugliedern.

Das dritte Szenario könnte die schrittweise Vernichtung der Karabach-Armenier sein. Obwohl dieses Szenario geopolitisch wenig sinnvoll erscheint, wurde der Tod einiger Karabach-Armenier, insbesondere der Schwächsten und Schwerkranken, bereits von Aserbaidschan in Kauf genommen. Auf armenischer Seite weckt die Blockade in der Tat die Furcht vor einem Pogrom. Düstere Erinnerungen beispielsweise an die Pogrome gegen die armenische Minderheit von Sumgait im Jahr 1988 werden wieder wach. Ob ein solches Szenario wirklich eintreten wird, ist momentan noch nicht zu sagen, aber mit jedem Tag, an dem keine Lebensmittel, Medikamente und Ähnliches geliefert werden können, wächst der Druck auf die Karabach-Armenier.

„Internationale Solidarität ist begrenzt“

Seit mittlerweile mehr als einem Monat überstehen und überleben sie diese vollkommene Blockade. Immer wieder hat Aserbaidschan ihnen den Strom und das Gas abgestellt. Mittlerweile ist Bergkarabach auch vom Internet abgeschnitten. Eine solche Blockade verstößt gegen internationales und humanitäres Recht und sollte von der internationalen Gemeinschaft entsprechend behandelt werden. Doch die internationale Solidarität ist begrenzt.

Einerseits hat der Westen zu viele geopolitische und geostrategische Interessen in Aserbaidschan und der Türkei. Andererseits sind die Möglichkeiten der Armenier begrenzt, im Westen auf ihre Situation aufmerksam zu machen. In Deutschland leben schätzungsweise gerade einmal 50.000 bis 80.000 Armenier. Die meisten leben seit mehreren Generationen hier, da ihre Vorfahren vor dem Völkermord an den Armeniern durch das Osmanische Reich 1915/1916 nach Deutschland geflüchtet sind.

In Berlin leben etwa 2000 Armenier. Der Aktivismus der kleinen armenischen Community verhallt in der deutschen Mehrheitsgesellschaft. Lediglich kleine Verbände wie etwa Ararat Berlin mit seiner Kiezküche in Kreuzberg berichten mithilfe sozialer Netzwerke und bei Veranstaltungen über die Lage der Armenier in Bergkarabach. Die internationale Politik hingegen scheint das Thema nur am Rande zu interessieren. Es gab Aufrufe, dass man die Blockade aufheben sollte. Ein Handeln folgte nicht. Es wurden keine Sanktionen gegen Aserbaidschan verhängt. Ja, sie wurden noch nicht einmal angesprochen, geschweige denn in Erwägung gezogen. Vielmehr scheint es, als würde der Westen die Augen vor der bereits realen humanitären Katastrophe in Bergkarabach verschließen.

Zur Diversifizierung der europäischen Energiequellen hat Ursula von der Leyen in ihrer Funktion als EU-Kommissionspräsidentin zuletzt sogar stolz den doppelten Ankauf von Erdgas aus Aserbaidschan bis zum Jahr 2027 verkündet. Im Juli 2022 war von der Leyen zu Gast in der aserbaidschanischen Hauptstadt Baku und verkündete weitere wirtschaftliche Kooperationen mit Aserbaidschan – diesmal auch im Bereich der erneuerbaren Energien.

Die EU entschloss sich dazu, Erdgasimporte aus einer Diktatur, die einen Krieg anzettelte, mit Erdgasimporten aus einer anderen Diktatur, die einen Krieg anzettelte, zu ersetzen. Dabei sollte uns doch gerade der Krieg in der Ukraine gelehrt haben, dass wir den „Anfängen wehren“ sollten. Zuerst ging es Aserbaidschan im Jahr 2020 darum, Bergkarabach einzunehmen. Im September 2022 folgten Angriffe auf das international anerkannte Territorium Armeniens, in und um die Stadt Jermuk. Eine kleine Fläche Armeniens ist seitdem aserbaidschanisch besetzt.

Mittlerweile geht es Aserbaidschan um den Sangesur-Korridor, der bereits in Reichweite ist. Zuletzt verlautbarte der aserbaidschanische Präsident im Dezember 2022, dass auch die armenische Hauptstadt Jerewan, eine der ältesten Städte der Welt, gegründet vom ersten christlichen Volk der Welt – den Armeniern –, eigentlich historisches aserbaidschanisches Gebiet sei. Die Gebietsansprüche Aserbaidschans mindern sich also nicht, sie wachsen weiter. „Wehret den Anfängen!“

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