Bereit für eine Debatte über die Werte, auf denen unsere Gesellschaft ruht?

Beobachtungen einer zarten Tendenz zum radikalen Hinterfragen der sozialen und wirtschaftlichen Organisation.

Können sich nur wenige leisten: der Blue Moon Diamond mit 12.03 Karat.
Können sich nur wenige leisten: der Blue Moon Diamond mit 12.03 Karat.dpa/Martial Trezzini

„Ja, man wird nicht reicher, ohne dass Andere ärmer werden“, beantwortete jüngst im Tatort der ARD der Banker die Frage der Kommissarin Rosa Herzog, ob man nur reicher werden würde, wenn man anderen etwas wegnehme. Steht dieser frühe Tatort im Jahr 2022, der die Geschichte von reichen Männern, die wahnsinnig geworden mit einem Sack voll Geld unterm Arm übers Feld vor der Polizei wegrennen, programmatisch für das begonnene Jahr? Besteht Hoffnung, dass ein Diskurs entsteht, der unsere gesellschaftlichen Werte radikal in Frage stellt? Der die soziale Ordnung, die die Menschen an zwei verschiedene Enden sortiert, hinterfragt? Der endlich die Kritik des Soziologen Max Weber an den drei „Ws“ ernst nimmt? Also die Orientierung der Gesellschaft an Wachstum, Wohlstand und Wohlfahrt (verstanden laut dem Duden als Wohl des Einzelnen – mit der Ergänzung: besonders in materieller Hinsicht), die andere Werte wie Bildung, Nachhaltigkeit, Gesundheit oder Gemeinschaft immer unterordnet.

Bei Betrachtung der Medien, die durch öffentliche Mittel finanziert werden, wage ich es fast, die Fragen mit Ja zu beantworten. In 60 Minuten zeichnet ein Beitrag des Deutschlandfunks mit dem vielsagenden Titel „Ein Gespenst geht um die Welt“ vom 28. Dezember 2021 die Spuren des Neoliberalismus nach. Fast wie ein Krimi hört es sich an, wenn dargelegt wird, wie die Idee des Neoliberalismus entstanden ist und über Jahrzehnte die Politik infiltriert hat, bis sie schließlich ab den 1970er-Jahren Einzug in die Staatstheorie hielt: Der Markt regle sich selber und der Staat solle die gesamte Daseinsfürsorge an die Privatwirtschaft abgeben.

Folge dieses Verständnisses der Aufgaben des Staats sei es, dass wir heute damit zu kämpfen haben, dass in Deutschland das reichste Zehntel über 67 Prozent des Gesamtvermögens verfügt. Der Beitrag endet mit der steilen These, die eben jene Werte, die Weber schon vor über 100 Jahren kritisierte, anprangert: Hinter dem Neoliberalismus stehe ein verengter Freiheitsbegriff, der nur die wirtschaftliche Freiheit des Einzelnen begreift.

Es ist der Anstoß zum Nachdenken darüber, was eigentlich die Freiheit ausmacht und was das Problem dahinter sein kann, dass wir in einer Welt leben, in der einige Wenige auf Kosten Vieler leben.

Auch die neue Ausgabe des Magazins der Bundeszentrale für politische Bildung fluter. stellt Fragen, die ans Eingemachte gehen. So beschäftigt sich das Magazin unter dem Thema „Klasse“ mit der Frage nach mehr Solidarität und Gerechtigkeit in der Gesellschaft. Einleitend warnt Thomas Schilling, verantwortlich für die Redaktion, vor einem blinden Weitermachen, das wenige Menschen in reich und viele in arm sortiert.

Es ist ein Heft, in dem hart mit der Vorstellung einer meritokratischen Gesellschaft gebrochen wird, wonach der Erfolg einer einzelnen Person nur von ihren eigenen Leistungen abhängig ist und nicht von anderen Faktoren wie Geschlecht oder sozialer Herkunft beeinflusst wird.

Es wischt das Märchen von der Erfolgsgeschichte durch Leistung – à la vom Tellerwäscher zum Millionär – aus den Augen, um einen klaren Blick auf die sozialen Ungerechtigkeiten weltweit werfen zu können. Auch wenn es nur drei Beiträge sind, die hier zitiert werden, so sind doch drei Beiträge in kürzester Zeit hintereinander und mit einer relativ hohen Reichweite erschienen, die Zustände hinterfragen, wie es lange nur in Diskussionen an WG-Küchentischen geschehen ist. Vielleicht birgt dieses Jahr also die Möglichkeit einer öffentlichen Beantwortung der Frage: „Wie wollen wir leben?“. Es wäre auf jeden Fall ein Vorsatz, dessen Umsetzung lohnenswert erscheint.

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