Bericht einer Ukrainerin: Wie kann Berlin nur so glücklich sein?
Kateryna Demerza, 28, ist aus Kyjiw nach Berlin geflüchtet. Der Krieg hat alles verändert. Ein Leben zwischen Nervenzusammenbruch, Trauer und Wut.

Kateryna Demerza ist 28 Jahre alt und ist im März 2022 von Kyjiw über Prag nach Berlin vor der Ausweitung des russischen Angriffskrieges der Ukraine geflohen. Sie ist PhD-Philophie-Studentin an der Nationalen Taras-Schewtschenko-Universität Kyjiw und festes Mitglied bei dem Verein Vitsche e.V., bei dem sich Ukrainer*innen in Deutschland und vor allem in Berlin für die Subjektivität und Unterstützung der Ukraine einsetzen. Derzeit ist Kateryna Demerza Stipendiatin des Brückenstipendiums an der Universität Potsdam. Im Zentrum ihrer Forschung stehen philosophische Fragen zu Raum, Gedächtnis, Identität und deren Wechselbeziehungen. Seit 2021 arbeitet sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin beim Ivan-Honchar-Museum (Nationales Zentrum der traditionellen Kultur) und als strategische Beraterin beim CEO Club Ukraine (Business-Club in Kyjiw). Seit 2020 engagierte sie sich auch als Kommunikationsmanagerin in der NGO Renovation Map, in der es um den Schutz des kulturellen und architektonischen Erbes Kyjiws geht.
Februar 2022
Es ist Anfang Februar: Meine Freundin und ich mieten eine geräumige Wohnung mit Bad und Balkon im Zentrum von Kyjiw, und erst vor zwei Monaten haben wir einen Welpen aus einem Tierheim adoptiert und versuchen ihn aufzuziehen. Wir gehen ins Kino, feiern mit Freunden, gehen in Parks spazieren und planen an den Wochenenden Ausflüge ins Ausland und in andere Städte der Ukraine. Ich habe zwei Jobs, die mir Spaß machen und die ich in zwei verschiedenen Bereichen ausübe: Kultur und Wirtschaft.
In der Nacht zum 24. Februar schreibe ich einen Artikel und meine Partnerin arbeitet bis drei Uhr morgens, um einen Abgabetermin für ein Projekt einzuhalten. In ein paar Stunden werden weder dieser Artikel noch dieses Projekt von Bedeutung sein.
Frühling 2022
Nach Beginn der Invasion ließen meine Partnerin und ich unseren Hund im Sommerhaus bei meinen Eltern in der Nähe von Kyjiw zurück und zogen in das Haus meiner Schwester in Prag. Damals schien das die vernünftigste Entscheidung zu sein: Wir hatten eine Wohnung in Prag und wollten so sichergehen, dass wir nicht den Platz von anderen Geflüchteten wegnehmen, und wir konnten uns aus der Ferne mit mehr Energie engagieren als unter den stressigen und ungemütlichen Bedingungen im Sommerhaus meiner Eltern. Doch mit der Zeit sah es nicht mehr so aus, als würde der Krieg im nächsten Monat zu Ende sein. In der zweiten Woche nach dem großen russischen Einmarsch begann ich, wie die meisten Ukrainer Mitte März, zu begreifen, dass unsere westlichen Partner es nicht eilig hatten, schlagkräftige militärische Hilfe zu leisten, dass niemand den Luftraum schließen und Russland von allen wirtschaftlichen Ressourcen abschneiden würde. Dies waren die ersten Wellen der Erkenntnis, dass das alte Leben nicht wiederkehren würde. Aber ich schüttelte diese Gedanken ab und dachte, ich müsste mich nur an die Umstände anpassen und dann würden wir zu unserem normalen Leben zurückkehren.
In der dritten Woche packten wir unsere Koffer und zogen nach Berlin. Unsere Ersparnisse gingen zur Neige, und die Möglichkeiten der Freiwilligenarbeit waren eher zufällig und befriedigten nicht meinen Wunsch, mich für den Sieg der Ukraine einzusetzen. In Berlin hatte ich Freunde, ich sprach Deutsch, und mein Philosophiestudium gab mir die Möglichkeit, eine Stelle in einem Forschungszentrum zu bekommen.
Nach zwei Wochen, geprägt von bürokratischen Prozessen und der Wohnungssuche, begann ich schließlich mit meiner Freiwilligenarbeit bei dem Verein Vitsche. Das befreite mich allmählich von den Schuldgefühlen, die ich beim Verlassen der Ukraine hatte, aber es konnte sie immer noch nicht ausgleichen. Ein paar Wochen später erhielt ich mein erstes Forschungsstipendium.
In unserer Freizeit spazierten meine Partnerin und ich durch die Stadt und versuchten, unsere Lebenspläne zu verstehen. Zu dieser Zeit lebten wir in unseren Gedanken meist zu Hause in der Ukraine. Wir lasen ununterbrochen die Nachrichten, unterstützten uns gegenseitig, spendeten einen Teil meines Stipendiums für die ukrainische Armee und warteten auf den Zeitpunkt, an dem wir nach Hause zurückkehren konnten.

Sommer 2022
Wir begannen, uns an unser neues Leben zu gewöhnen: Wir fanden eine separate Wohnung, kauften alte Fahrräder und erneuerten unsere Garderobe ein wenig mithilfe von „Spenden“ von Freunden. Ich wurde mehr in die Gemeinschaft der lokalen Aktivist*innen integriert und begann sogar, meine eigenen Projekte zu kuratieren. Doch eines blieb uns im Gedächtnis – mein Stipendium würde enden, wir würden Geld sammeln und nach Hause zurückkehren.
Wir fühlten uns hier nicht zu Hause und wollten uns auch nicht anpassen. Der Wunsch vieler Freunde und Mitbürger, in anderen Ländern ein besseres Leben zu suchen, war uns immer fremd. Natürlich hatten wir vor, eine Zeit lang in anderen Teilen der Welt zu leben, aber Kyjiw war die Heimat und die Stadt, in der wir uns als Teil der Gemeinschaft und als Akteure des Wandels verstanden. In Berlin fühlt man sich frei, aber in dem Sinne, dass man sich in der Stadt frei bewegen kann und Zugang zu vielen Dingen hat. Aber man fühlt sich nicht aktiv, nicht in das Leben der Stadt eingebunden. Deine Meinung wird nicht gehört, du bist in einer Stadt, die sich nicht darum kümmert, ob du hier bist oder nicht. In Kyjiw ist das anders. Du weißt, dass dies deine Stadt ist und es auch von dir abhängt, wie sie sein wird.
Es war schwierig für uns, mit Menschen zu kommunizieren, die nicht aus der Ukraine oder aus Ländern stammen, die kürzlich eine bewaffnete Invasion erlebt haben. Manchmal konnten wir uns nicht erklären, wie alles hier in Berlin so glücklich und ruhig sein konnte, während in der Ukraine, die weniger als 1000 Kilometer entfernt von Berlin ist, jeden Tag Menschen von den russischen Truppen getötet und gefoltert werden. Unsere deutschen Freunde planten Ausflüge, luden uns zu ihren Geburtstagen ein, gingen ins Fitnessstudio und verbrachten ihre Abende mit Büchern. In ihrer Realität gab es keinen ständigen Krieg, der ihre ganze Aufmerksamkeit und Energie in Anspruch nahm.
Durch den Krieg verlor die normale Welt ihre Bedeutung. Meine Forschungsstipendien erschienen mir unwichtig im Vergleich zum Studium der taktischen Medizin oder dem Fliegen einer Drohne in der Armee. Und in den Momenten, in denen man es schaffte, sich geistig und körperlich auszuruhen, spürte man innerhalb weniger Minuten die Selbstverurteilung, denn wie konnte ich mich ausruhen, wenn meine Freunde an der Front starben oder in ständiger Gefahr eines Raketenangriffs und einer Besetzung waren.
Zu all dem kam noch der Schmerz des Unverständnisses hinzu. Die Berliner Polizei ließ prorussische Autokorsos in der Stadt zu, nahm Provokationen und Drohungen der prorussischen Gemeinschaft gegen Geflüchtete aus der Ukraine nur unzureichend auf, und verschiedene Intellektuelle und Politiker unterzeichneten Briefe, um Waffenlieferungen zu stoppen. Die teilweise ambivalente Einstellung Deutschlands zum Krieg hat mich sehr geprägt. Aber der Wunsch, diese Situation zu ändern, überwog, und ich stürzte mich wieder in ein neues Bildungsprojekt.
Dennoch hatten wir hier Freunde, eine Gemeinschaft von Gleichgesinnten, mit denen wir großartige Dinge taten, die Ukraine unterstützten und unsere Fähigkeiten weiterentwickelten. Ich begann, mir die Rückkehr nach Hause nicht mehr so klar vorzustellen wie zuvor. Es stellte sich die Frage, ob ich zu Hause einen neuen Job finden würde, und auch, ob ich nicht auf Dauer aus der Ferne bei Vitsche mitarbeiten könnte. Es herrschte ein Gefühl der Anspannung: Ein Teil von mir möchte hier sein, der andere Teil möchte nach Hause gehen. Und das schlimmste Gefühl ist, dass ich wusste, egal wofür ich mich entscheide, ich werde traurig sein, das andere loszulassen.
Herbst 2022
Mit dem Herbst und dem Beginn des Winters änderten sich diese Gedanken. Aufgrund des ständigen Stresses, des Geldmangels, da wir beide buchstäblich nur von meinem Stipendium lebten, der Anhäufung von Kriegserlebnissen, die wir nicht verarbeiten konnten, und der starken Veränderung der Lebensbedingungen in kurzer Zeit (von den komfortablen Bedingungen in Kyjiw zu den Überlebensbedingungen in Berlin), begann ich Nervenzusammenbrüche zu bekommen. Ich verbrachte die meisten Tage an meinem Laptop und versuchte, alles zu erledigen und endlose Projekttermine einzuhalten. Diese Arbeitshyperaktivität war der einzige Rettungsanker vor der Erkenntnis der Müdigkeit, Erschöpfung und Orientierungslosigkeit.
Das Adrenalin des Unbekannten hatte sich abgenutzt, und nun blieb das Bewusstsein eines Lebens, das sich in eine unvorhersehbare und unkontrollierbare Richtung entwickelte. Die Ungewissheit, die mit dem Krieg einhergeht, die täglichen Nachrufe für verstorbene Freunde in den sozialen Medien, die große Zahl von Freunden, die sich im Herbst freiwillig bei der ukrainischen Armee meldeten – all das trug Stück für Stück dazu bei, dass es mir emotional schlechter und schlechter ging. Wir waren immer weniger in der Lage, Freude zu empfinden, wurden immer reizbarer und unsicherer.
Zur gleichen Zeit fuhren wir zum ersten Mal für eine Woche nach Hause. Wir spazierten durch Kyjiw, sahen unsere Familie und Freunde, gingen mit unserem Hund spazieren. Freunde fragten uns, wann wir endgültig zurückkehren würden, und meine Eltern meinten, wir sollten noch ein wenig warten. Ich begann wieder zu fotografieren und freute mich, durch meine Lieblingsstraßen zu gehen und spannende Leute zu treffen.
Wir kehrten in das graue Berlin zurück, und aufgrund dieses Kontrasts der Erfahrungen verfielen wir schließlich in Melancholie und Verwirrung. Im Oktober begann Russland mit dem systematischen Beschuss der Energieinfrastruktur. Für Menschen in der Ukraine begann eine neue Phase der Kriegserfahrung: ein Leben ohne Licht, Wärme und manchmal auch ohne Wasser. Einige meiner Freunde reisten innerhalb weniger Wochen ins Ausland aus, da sie ohne Strom und Internet nicht arbeiten konnten. Mein Stipendium lief Ende Januar aus, und wir begannen darüber nachzudenken, wie es weitergehen sollte. Sollten wir uns hier niederlassen oder sollten wir nach Hause zurückkehren, solange wir noch können? Diese Frage lastete dennoch wie eine ständige Bürde auf uns. Und schließlich hat es uns gebrochen.
Winter 2022/23
Ich hatte mehrere Nervenzusammenbrüche. Ich trennte mich von meiner Partnerin. Ich ging zu einem Therapeuten und lebte einen Monat lang auf den Sofas meiner Freunde. Mein einziger Wunsch war es, in meine Wohnung in Kyjiw zurückzukehren, mich in eine Decke zu wickeln und zu beobachten, wie die Sonne mittags vom Balkon herabging und den ganzen Raum mit Licht durchflutete. Ich wollte meinen Hund mitnehmen und einfach den ganzen Tag mit ihm in den Parks spazieren gehen, damit ich nicht diese Traurigkeit, Müdigkeit und das unbestimmte Gewicht der Verantwortung für mein Leben und meine Handlungen spüren würde. Mein Stipendium wurde bis April verlängert, was mir zumindest die Entscheidung abgenommen hat, wann und wie ich zurückkehren soll. Jetzt werde ich im Frühjahr darüber nachdenken.
Ich habe ein Zimmer in einer WG mit netten Deutschen gefunden. Mit Vitsche organisiere ich jetzt eine große Demonstration zum Jahrestag der vollständigen Invasion. Und ich versuche, keine Fotos vom letzten Jahr zu öffnen, mich nicht daran zu erinnern, dass ich erst vor einem Jahr abends vom Schwimmbad nach Hause ging, wo meine Freundin und mein Hund auf mich warteten, mit einem Plattenspieler, der meine Lieblingsmusik von „Apparat“ spielte.
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