Berlin: Wie die Trickfilmpionierin Lotte Reiniger Geschichte schrieb
Vor 100 Jahren begann Lotte Reiniger die Arbeit an dem Film „Die Abenteuer des Prinzen Achmed“. Er ist der älteste noch erhaltene animierte Langfilm der Welt.

Als in der Inflationszeit die Brötchenpreise auf mehrere Millionen Mark kletterten, suchte ein junger Bankier aus Potsdam nach einer Möglichkeit, sein Geld nachhaltig anzulegen, und griff zu, als sich die Gelegenheit bot, leere Filmrollen in großem Stil zu kaufen. Zeitgleich arbeitete eine aufstrebende Künstlerin in einem Unternehmen, das heute Start-up hieße und damals eine Produktionsgesellschaft für Trickfilme war, die mit neuesten technischen Entwicklungen experimentierte und Aufträge aus Industrie oder Wissenschaft übernahm.
Lotte Reiniger, 1899 in Charlottenburg geboren, stammte aus einer gut situierten bürgerlichen Familie, in der die Mädchen keine Berufe, sondern Beschäftigungen wie Spitzenklöppeln oder Silhouettenschneiden lernten. Darin brachte die kleine Lotte es zur Meisterschaft. Doch anstatt ihre Silhouetten brav in Bilderrahmen zu präsentieren, baute sie sich ein Schattentheater und versetzte sie in Bewegung. Auch sonst hielt Lotte nicht viel von vorgegebenen Rahmen. Sie besuchte die ersten Berliner Kinos, als diese noch verruchte Unterhaltung waren, verehrte den Schauspieler und Filmregisseur Paul Wegener und redete so lange auf ihre Eltern ein, bis sie ihr den Besuch der Schauspielschule am Deutschen Theater erlaubten.
Mit ihrem schauspielerischen Talent erregte sie dort allerdings deutlich weniger Aufmerksamkeit als mit den Silhouetten, die sie von den Theater-Stars schnitt. Sie traf deren charakteristische Körperhaltungen in den jeweiligen Rollen so genau, dass ein Kollege die Ergebnisse als Buch herausbrachte. Auch Paul Wegener war beeindruckt. Er ließ sie die Titelsilhouetten für seine nächsten Filme schneiden. Als sie keine Ruhe gab und immer mehr ausprobieren wollte, stellte er sie dem Institut für Kulturforschung – so hieß das Trickfilm-Start-up – mit den Worten vor: „Nehmt mir um Himmels willen dieses verrückte Silhouettenmädchen ab und lasst sie mit ihren Schattenbildern was an dem Tricktisch machen!“

Lotte Reiniger versah ihre Silhouetten mit Gelenken, legte sie auf eine von unten beleuchtete Glasplatte, installierte eine Kamera darüber, nahm ein Bild auf, bewegte die Figur minimal vorwärts, nahm das nächste Bild auf, ließ die nächste Bewegung und das nächste Bild folgen, bis sie nach 24 Bildern eine Sekunde Film zusammenhatte. Mit dieser Stop-Motion-Technik entstand 1919 ihr erster Trickfilm „Das Ornament des verliebten Herzens“, Länge: 4 Minuten.
Der erste abendfüllende Trickfilm
Weitere Kurzfilme folgten, für die sie nach Stoffen suchte, die den optischen Möglichkeiten der Silhouetten entsprachen. Dazu gehörten fantastische Verwandlungen, reiche Kostüme oder spektakuläre Landschaften. Vielfach nutzte sie Märchen als Vorlage. Die Handlung versetzte sie an Orte, deren Geografie, Architektur oder Mode ihr gestalterische Herausforderungen boten. So landete etwa eine Geschichte von Hans Christian Andersen in einem traumhaften China. Damit unterschieden sich Lotte Reinigers Filme von den ersten kurzen Zeichentrickfilmen, die zeitgleich in Amerika entstanden. Die hatten sich aus karikaturistischen Zeitungs-Cartoons entwickelt und waren von einer ironisch-brutalen Urbanität.
Etwas Geld verdiente Lotte Reiniger mit Werbefilmen. Ob sich die Verkaufszahlen von Nivea deshalb nennenswert erhöhten, ist nicht überliefert. Gesichert dagegen ist ein Ereignis zu Beginn des Jahres 1923. Der Bankier Louis Hagen erschien im Trickfilmstudio, schaute sich die Silhouettenfilme an, dachte an seine Investition in leere Filmrollen und hatte eine Idee. „Wollen Sie mal einen Langfilm machen?“, fragte er Lotte Reiniger. Die war verblüfft.
Es gab Trickfilme von mehreren Minuten, auch von einer Viertelstunde Dauer. Aber ein Langfilm? Wie sollte das gehen, mit einem Trickfilm die Aufmerksamkeit des Publikums für eine Stunde oder länger zu halten? So etwas hatte noch niemand gewagt! Doch die Versuchung war groß. Lotte Reiniger gefiel die Vorstellung, wieder einmal einen vorgegebenen Rahmen zu ignorieren. Warum also nicht ein Silhouetten-Langfilm? Sie sagte zu und übersiedelte mit ihrem Mann Carl Koch, den Kollegen Walter Ruttmann und Berthold Bartosch nach Potsdam, wo ihr der innovationsfreudige Mäzen auf seinem Villengrundstück am Jungfernsee ein eigenes Filmstudio einrichtete.

So begann vor 100 Jahren ein künstlerisches Experiment, das nach drei Jahren Arbeit an Hunderten Silhouetten für 250.000 Einzelbilder am 2. Mai 1926 in der Volksbühne Berlin einen triumphalen Erfolg feiern sollte. Die Investition in leere Filmrollen hatte sich gelohnt: „Die Abenteuer des Prinzen Achmed“ wurde als erster abendfüllender Trickfilm zu einem Meilenstein der Filmgeschichte. Lotte Reiniger bekam dafür auf der Berlinale 1972 das Filmband in Gold. Knapp zehn Jahre später verstarb die Ausnahmekünstlerin, doch ihre Wirkung bleibt lebendig. Eine Reverenz erweist der Filmpionierin aktuell zum Beispiel die neue Staffel von „Babylon Berlin“.
Rike Reiniger ist Theaterautorin und mit der Trickfilmpionierin weitläufig familiär verbunden.
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