Berlin um 1900: Der Juraprofessor und Universalgelehrte, der fast nie schlief
Er galt als so fleißig wie Virchow und als eine der schillerndsten Figuren Berlins: Eine Erinnerung an den rastlosen Juristen Josef Kohler.

Im Gegensatz zu Natur- und manchen Geisteswissenschaftlern finden Biografien von Rechtswissenschaftlern kaum öffentliches Interesse. Ein Grund dafür ist sicher, dass Nichtjuristen kaum deren Leistungen und noch viel weniger den Nutzen ihrer Arbeit einschätzen können. An der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin, der heutigen Humboldt-Universität, lehrten und forschten eine Vielzahl bedeutender Juristen. Doch eigentlich ist nur einer der breiteren Öffentlichkeit bekannt: der Rechtshistoriker Theodor Mommsen, der 1902 für sein Hauptwerk „Römische Geschichte“ den Nobelpreis für Literatur erhielt.
Einer der schillerndsten und erfolgreichsten Professoren jener Fakultät war Josef Kohler. Überschwänglich wurde er seinerzeit als „Geistesheros deutscher Jurisprudenz“ bezeichnet. In Nachrufen ist vom größten deutschen Juristen und internationalen Enzyklopädisten die Rede. Die Humboldt-Universität hält mit dem im Jahre 2012 gegründeten Josef Kohler-Forschungsinstitut für Immaterialgüterrecht die Erinnerung an ihn wach.
Professor und Poet
Kohler war eine Erscheinung. Zeitzeugen beschrieben ihn als „feurigen Badenser mit einer Löwenmähne, leuchtenden Augen und markanten Zügen, die an den Kopf des Großen Kurfürsten erinnern“. Man unterstellte ihm, dass er die Ähnlichkeit mit diesem nach Schlüters Bildnis anstrebe. Er gleiche mehr einem Künstler als einem Professor. Wohl kaum zufällig war er meist mit Kalabreser-Hut und Künstlermantel unterwegs. In einem Nachruf heißt es: „so gab er sich auch wohl mit einer nicht wegzuleugnenden Selbstgefälligkeit gern unter Professoren als Professor und unter Poeten aber als Poet“.
In Berlin gehörte Kohler zu den bekanntesten Persönlichkeiten. In seinem Text „Das Paradigma“ (1914) erwähnte Kurt Tucholsky ein „Bild des Rechtsgelehrten Kohler“, der „aufgerichtet und würdig in einem Rahmen stand, Professor, Dichter und Musiker“.
Mit Beginn des Sommersemesters 1888 wurde Kohler an die Berliner Juristenfakultät berufen, um die neu geschaffene Professur für Prozesswissenschaft zu besetzen. Als Sohn eines Lehrers hatte er in Freiburg und Heidelberg studiert und war fünf Jahre als Anwaltsvertreter, Amtsrichter und Landgerichtsrat in Mannheim tätig. 1878 berief man ihn zum Professor in Würzburg. Aufgrund seiner Genialität übersprang er auf dem Weg zur ordentlichen Professur den Privatdozenten und den Extraordinarius.
Den Wechsel nach Berlin bezeichnete er später als das wichtigste Ereignis seines Lebens. Der Zufall wollte es, dass er im Dreikaiserjahr – Wilhelm I. sowie Friedrich III. starben und der 29-jährige Wilhelm II. bestieg den Thron – in Berlin eintraf. Jene Zeit war in Deutschland von einem enormen industriellen Wachstum geprägt. Auch Berlin befand sich im rasanten Aufschwung und wurde zur drittgrößten großstädtischen Industriesiedlung der Welt nach London und New York.
Für den hochintelligenten Professor und modernen Universaljuristen war diese Zeit des gesellschaftlichen Um- und Aufbruchs geradezu ein Glücksfall. Seine neue Wirkungsstätte bot ihm bestens ausgestattete Bibliotheken und ermöglichte den Austausch mit führenden Gelehrten aller Fakultäten. Zudem verdankte er nach eigenen Worten seinem neuen Arbeitsplatz, dass er „mit unzähligen bedeutenden Personen des Auslands bekannt wurde und auf solche Weise Resonanz finden konnte, welche sich über die ganze Erde erstreckt“. In seiner höchst umfangreichen Korrespondenz finden sich Vertreter der verschiedensten Professionen, vom Aeronauten bis zum Zoologen.
Fast 2500 wissenschaftliche Veröffentlichungen
Die bloße Inaugenscheinnahme der Vielzahl und Vielfalt seiner Forschungs-, Lehr-, Gutachter- und Übersetzertätigkeit sowie sein Wirken als Buch- und Zeitschriftenherausgeber wie auch seine künstlerischen Arbeiten offenbaren eine außergewöhnliche Schaffenskraft und -lust. Kohlers Lebenswerk umfasst knapp 2500 Titel mit bedeutenden Beiträgen zur Rechtsgeschichte, Rechtsphilosophie, Rechtsvergleichung und zum damals geltenden Recht.
Über seinen Fleiß wurde mit derselben Ehrfurcht wie seinerzeit bei Virchow gesprochen. Er schlief nur wenige Stunden, und in den kurzen Pausen zwischen den Vorlesungen sah man ihn häufig im Café Bauer gegenüber der Universität über Korrekturen sitzen. Dort verkehrten „viele hunderte von Menschen der hervorragendsten Gesellschaftsklassen die volle 24 Stunden des Tages in dem eleganten Etablissement anzutreffen sind und dass dasselbe niemals geschlossen wird“, wie eine Berliner Zeitung 1887 berichtet. Im Übrigen soll das Café etwa 800 europäische Tageszeitungen für seine Gäste vorgehalten haben. Nicht unwichtig für Kohler, der selbst so eifrig journalistisch tätig war wie keiner seiner Kollegen.
Kohler war aber auch als Wissenschaftsorganisator aktiv. So gründete er gemeinsam mit Fritz Berolzheimer im Jahre 1909 die bis heute bestehende „Internationale Vereinigung für Rechts- und Wirtschaftsphilosophie“. Zwei Jahre zuvor hatte er bereits die Zeitschrift „Archiv für Rechts- und Wirtschaftsphilosophie“, heute „Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie“, – neben weiteren Zeitschriften – ins Leben gerufen. Die Begründer dieser Zeitschrift trafen sich wöchentlich im Romanischen Café an der Gedächtniskirche, um die Redaktionsgeschäfte zu besprechen.
Die Berliner Universität zählte um die Jahrhundertwende zu den größten der Welt. Einschließlich der nicht immatrikulierten Zuhörer waren ab 1901 zum Wintersemester regelmäßig mehr als 13.000 Studierende an der Berliner Universität registriert, aus mehr als 20 Ländern. Jura war der meistgewählte Studiengang.
In der Vorlesungstätigkeit sah Josef Kohler den höchsten Genuss eines Universitätslehrers. Sein Berufungsauftrag verpflichtete ihn als Ordinarius für „Straf- und Zivilprozeß“. Vom Wintersemester 1878/79 bis zum Sommersemester 1919 hielt er über fast alle Fächer der Rechtswissenschaft Vorlesungen und Übungen ab. Zusätzlich hielt er Privatvorlesungen sowie Übungen. Man sagte Kohler nach, auf die Jugend nicht nur als Gelehrter, sondern auch als Mensch einzuwirken. Sein Schülerkreis erstreckte sich weit über Deutschland hinaus bis nach Ostasien. Vor allem in Japan, wo das deutsche Recht und deutsche Rechtswissenschaftler starken Einfluss hatten, genoss er hohes Ansehen. 1886 erhielt er ein hochdotiertes Angebot, als Professor nach Tokio zu gehen. Er lehnte ab. Nach seinem Tod erwarben begeisterte japanische Schüler die 18.300 Bände aus seiner Bibliothek. Kohlers Privatbibliothek in der Wohnung am Kurfürstendamm füllte vier große Räume, die bis zur Decke mit Büchern vollgestellt waren. Die Josef-Kohler-Bibliothek in Tokio fiel am 1. September 1923 einem Erdbeben zum Opfer.
Italienische Literatur und Shakespeares Dramen
Sein Interesse und sein Fleiß waren schier grenzenlos. Als grundlegend gelten vor allem seine Veröffentlichungen zum Immaterialgüter-, Patent-, Marken- und Urheberrecht sowie zur (Universal-)Rechtsgeschichte und zur Rechtsvergleichung. Aktiv war er auch im Völkerrecht und anregend auf weiteren Rechtsgebieten, soweit er sie nicht selbst bearbeitet hat. Herauszuheben sind seine Arbeiten zum Patentrecht. Auf diesem Gebiet habe er – nach eigenen Worten – zum Gedeihen der deutschen Industrie beigetragen. Besonderes Augenmerk legte er aber auch auf das von ihm so benannte Immaterialgüterrecht. Weniger bekannt ist Kohlers Beitrag zur Entwicklung der Auslegungslehre. Schon früh erkannte er das Bedürfnis der neuen Zeit nach schöpferischen Richtern und einer neuen Rechtsanwendungsmethodik.
Josef Kohler war neben seiner Professur auch künstlerisch tätig. Und auch hier beschränkte er sich nicht nur auf ein Gebiet. Er war Komponist, Dichter, Shakespeareforscher und Reiseschriftsteller. Aufgrund seiner Liebe zu Italien, das er, modern wie er war, mit dem Automobil bereiste, übersetzte er in seinen Mußestunden klassische italienische Literatur. Über seine Leidenschaft zur Musik schreibt er: „ihr Zauber hat mich stets umgeben und ihr Segen mein Leben verklärt“. So musizierte und komponierte er nicht nur, sondern war auch Präsident der Richard Wagner-Gesellschaft für germanische Kunst und Kultur. In dieser Eigenschaft hielt er öffentliche Vorträge, um Wagners Kunstanschauung darzulegen. Er dichtete Dante und Petrarca nach und untersuchte Shakespeares Dramen mit „der Sonde kriminalistischer Psychologie“.
Die Liste seiner Mitgliedschaften in Akademien und Gesellschaften ist so lang wie die seiner vielzähligen Auszeichnungen und Ehrungen. 1904 verlieh ihm die Universität Chicago einen Ehrendoktor. Sowohl der Kaiser als auch US-Präsident Roosevelt gratulierten, Letzterer empfing ihn sogar im Weißen Haus. In Deutschland folgten, unter anderem, die Ernennung zum Geheimen Justizrat (1904), die Verleihung des Roten Adlerordens (1902 und 1910) sowie des Königlichen Kronenordens (1908 und 1913). Und auch der großherrlich türkische Osmanié-Orden wurde ihm verliehen. Er gehörte zu den wenigen Juristen, die von Friedrich Nietzsche gelesen wurden.
Nationalist im Ersten Weltkrieg
Die meisten Hochschullehrer waren zu Kohlers Zeiten von kaisertreuer Gesinnung und durch öffentliche Ämter in das System eingebunden. So auch „Wilhelms größter Kohler“, wie er gelegentlich bezeichnet wurde, weil er sich mit der Staatspolitik identifizierte. Doch seine politische Rolle ist nicht einfach zu fassen. In einem Nachruf heißt es: „Wollte man ihn dennoch politisch rubrizieren, so musste man ihn wohl zu den gemäßigten Liberalen rechnen. Während des Krieges allerdings ging es ihm wie so vielen anderen Professoren – er begab sich da auf Gebiete, denen auch er besser ferngeblieben wäre.“ Bei aller Wertschätzung heißt es in einem anderen Nachruf: „Bedenklich war es nur, wenn er sich auf das Gebiet der Politik begab.“
Wie viele Intellektuelle vertrat Kohler im Ersten Weltkrieg eine reaktionär-nationalistische Position – obwohl er auch einmal Vorsitzender der Deutschen Friedensgesellschaft in Berlin war. Sein Sohn berichtete nach dem Tod seines Vaters, dass die in dessen Kriegsaufsätzen niedergelegten Auffassungen, unter dem Eindruck des Krieges entstanden, später nicht mehr von ihm vertreten wurden.
Am 3. August 1919 starb Josef Kohler in Charlottenburg an einem Herzleiden. Im Berliner Tageblatt vom 4. August hieß es: „Eine Verschlimmerung erfuhr sein Leiden bei dem politischen Zusammenbruch Deutschlands. Kohler, der sehr optimistisch und allzu gläubig gewesen war, wurde durch die Ereignisse und durch die Erkenntnis seines Irrtums innerlich derartig ergriffen, dass der sonst so heitere Mann sehr ernst, fast menschenscheu wurde.“
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