Blick aus Tschechien: „Die russischen Panzer sind uns in frischer Erinnerung“
Fängt der Westen Europas endlich an, sich ernsthaft für Länder wie Tschechien zu interessieren? Unser Autor hofft darauf – und hat Zweifel.

Unlängst habe ich in Prag bei einer Konferenz zu deutsch-tschechischen Beziehungen und Schicksalen 1933–2020 moderiert. Sowohl Teilnehmer wie Publikum waren Eingeweihte oder Interessierte, darunter etliche sowohl des Tschechischen wie auch des Deutschen mächtig. Eine Sondersituation, die so in Deutschland selten vorzufinden ist.
Ende der 1970er-Jahre startete die tschechoslowakische Stasi die Aktion „Assanation“, deren Ziel es war, mit allen Mitteln die Signatare der Charta 77 und andere Dissidenten aus dem Land zu vertreiben. In diesem Kontext wurde meinem Onkel ein Visum für einen mehrjährigen Studienaufenthalt als Soziologe und Politologe in München genehmigt. Die Münchner Kollegen begegneten ihm durchaus freundlich, auch mal mit der wohlmeinenden Feststellung, die Tschechoslowakei hätte so eine schöne Hauptstadt Prag und diesen doch recht liberalen Präsidenten Tito, nicht?
Böhmen liegt ja am Meer, wie wir seit Shakespeare wissen. Ich liege auf meiner Couch in Friedrichhain und denke an Tschechien in der Nacht. Das bereitet mir, der ich den längeren Teil meines Lebens in Deutschland zugebracht habe, nicht ausschließlich Behagen. „Unser Land gedeiht nicht“, hatte Václav Havel 1990 seine Diagnose zum Zustand der Gesellschaft nach 41 Jahren Sozialismus gestellt.
Die EU und Osteuropa
Auch Jahre später, nach seinem Tod 2011, ist es nicht ausschließlich besser geworden. Die Transformation zur Demokratie brachte elementare Freiheiten und verhältnismäßigen Wohlstand. Der russlandaffine alkoholgeschädigte Präsident Miloš Zeman (allerdings weniger dem Wodka als Rotwein und Sliwowitz zugetan) und der inzwischen abgewählte Oligarch Andrej Babiš als Premierminister wirken da andererseits als robuste Residuen des geistig-moralischen Verfalls.
Mir geht es gut. Generell genieße ich in Berlin als Prager einen diskreten Exotenbonus, den ich gerne in Anspruch nehme, fast als ob er mir zustünde. Das schließt nicht aus, dass ich in Sachen Ostblock in toto schon mal nur verhalten Freundliches zu hören bekomme: Die EU hätte Osteuropa gar nicht aufnehmen sollen, die machen ja nur Ärger. Gut, lasst also auch mich ein ganz klein wenig Ärger machen. Ungarn als Sonderfall klammere ich dabei aus, ich beschränke mich auf Tschechien und ein wenig das katholische Polen, Länder, von denen ich doch etwas zu wissen meine.
Bei der Videoansprache Wolodymyr Selenskyjs im amerikanischen Kongress wurden ohne Vorwarnung Bilder bombardierter ukrainischer Städte gezeigt. Daraufhin entschuldigte sich der Sender CNN bei den Zuschauern. Während in der Ukraine seit 2014 Krieg geführt wird, hat sich auch Westeuropa und vornehmlich dessen Nachwuchs in der Einrichtung von safe spaces ergangen.
Der Westen und seine Triggerwarnungen
Lassen Sie mich als Theatermenschen Beispiele aus der Theaterlandschaft anführen. Grad ist mir wieder eine jüngere Schauspielerin begegnet, die Shakespeare zu spielen wegen Blutrünstigkeit und Sexismus ablehnt oder ihn zumindest zensieren und mit Friedensbotschaften versetzen möchte. Ein Kreuzberger Theater veröffentlicht bei einer Produktion eine sogenannte Triggerwarnung, weil verschiedene verstörende Dinge in Text oder Handlung aufkommen könnten: Bodyshaming, Misogynie, Patriarchat, Cissexismus = die Annahme, dass es nur zwei Geschlechter gäbe (Mann und Frau), plötzliche Laute, Essen, Gedächtnisverlust …
Triggerwarnungen sind mittlerweile auch bei Stadttheatern Usus. Theater als Orte geflissentlich behaupteter Relevanz, vor deren Darstellung sie sich selbst zu warnen veranlasst fühlen. (Trigger nennt man in der Medizin und Psychologie Substanzen und Ereignisse, welche Schmerzanfälle, Krankheiten, Allergien oder traumatische psychische Zustände auslösen können.)
Stell dir vor, es ist Krieg und jemand geht auch noch hin. Der Krieg, genauer gesagt, die Eskalation des Krieges in der Ukraine bricht mit Bildern über uns herein und zeitigt hierzulande Szenen von kristalliner, klinischer Reinheit. Der deutsche Bundestag schaut oder auch nur hört betreten einer Videoansprache Selenskyjs zu, zuletzt erheben sich die Abgeordneten zu Standing Ovations, setzen sich dann wieder hin – und die hilflose grüne Vizepräsidentin leitet lieber zu den Geburtstagsgratulationen für Abgeordnete über.
Die Appelle Selenskyjs sind nur teils einlösbar, vor allem aber sind sie schwer erträglich. Der Bundeskanzler Scholz schlägt zuerst Haken um ein klares Statement zum Ukraine-Krieg und vor allem zu wirtschaftlichen Sanktionen. Was nicht zuletzt zeigt, wie sehr er in der Koalition und auch der eigenen SPD balancieren muss. Als Deutschland dann in der EU (nicht als Erster sondern als Letzter) allein steht, werden sieben russische Banken aus dem SWIFT-Verkehr ausgeschlossen, etwa ein Drittel des russischen Bankvolumens.
Derweil fahren die Premierminister Tschechiens, Polens und Sloweniens mit dem Zug nach Kiew, um Präsident Selenskyj ihre Unterstützung zu bekunden. Nicht, weil sie bessere Menschen wären. Es handelt sich zunächst einmal um eine Geste, die jedoch zeigt, dass sie etwas Wichtiges verstanden haben, was auch das Risiko rechtfertigt.

Die Lehre von 1938 und 1968 in Tschechien
Die Jahreszahlen 1938 und 1968 sind zu Dauerbrennern in Tschechiens Fernsehen, Presse, Film und Literatur geworden. Dahinter verbirgt sich der stille Wunschgedanke: Hätte das tschechoslowakische 20. Jahrhundert nicht anders verlaufen können? Die russischen Panzer von 1968 sind in allzu frischer Erinnerung – und sollen es bleiben. Bei der neuerlichen Renovierung des Prager Nationalmuseums sind die von ihnen stammenden Einschüsse in der Fassade extra konserviert worden.
Und das Münchner Abfallen der Verbündeten Großbritannien und Frankreich im September 1938 mit der dadurch erzwungenen Abtretung der Sudetengebiete drängt sich den Tschechen als geschichtliche Parallele für die heutige Lage förmlich auf. Die komplette Okkupation Tschechiens durch die Deutschen ließ denn auch nicht lange auf sich warten. Sie folgte der Logik des westlichen Appeasements. Gerne wird dazu Churchills Diktum vom 11. September (sic!) 1938 angeführt: Bei der Wahl zwischen Krieg und Schande werden wir die Schande wählen und bald danach den Krieg bekommen.
Mitte 2021 nun lebten in Tschechien 236.000 Ukrainer (davon 53.000 mit tschechischer Staatsangehörigkeit), sowohl Wirtschaftsmigranten vor 2014 wie auch Flüchtlinge vor dem Krieg im Osten des Landes. Auf Deutschland umgerechnet entspräche das 1,83 Millionen. Bei den Streitigkeiten um die Verteilung von Migranten aus Nahost und Afrika nach 2015 zählten sie für Angela Merkel und die EU-Gremien nicht ganz für voll. Seit dem russischen Überfall sind aus der Ukraine bis zum 20. März dieses Jahres etwa 220.000 vornehmlich Frauen und Kinder nach Deutschland und 300.000 nach Tschechien geflüchtet.
Während Mariupol ausgebombt wird, verkriecht sich ein Teil tschechischer Linkspopulisten in Aufzählungen der Schuld der NATO am russischen Überfall – so wie in Deutschland auch. Und ähnlich schüren Rechtspopulisten und Babiš wiederum Sorgen vor der Flüchtlingswelle und nicht zuletzt den Neid wegen deren Sozialbezügen, wirkt doch der Neid erotisierend und überdies Menschen verbindend.
Stopp von Öl- und Gasimporten: Wohlstand oder Werte?
Der Mainstream ist derzeit solidarisch. Ihn vertritt die Überschrift in der Zeitschrift Reflex: „Die Ukrainer sind nicht Flüchtlinge, sondern Mitkämpfer.“ In einem Interview der Tagesschau mit dem tschechischen Außenminister Lipavský argumentierte die Reporterin, dass ein Stopp von Gas- und Ölimporten Deutschlands Volkswirtschaft als die größte der EU abwürgen dürfte. Lipavský antwortete: „Aus unserer Sicht ist es unverantwortlich, sich die Kriegsverbrechen in der Ukraine anzusehen und diese zu unterstützen, indem wir nicht bereit sind, unsere wirtschaftlichen Verflechtungen aufzugeben. Wir stehen vor der Frage: Was ist wichtiger, Wohlstand oder Werte?“
Da äußert sich Robert Habeck als Vertreter der stets moralisch überlegenen Grünen denn doch zurückhaltender. Wer mehr besitzt, hat eben mehr zu verlieren. Der viel beschworene Wandel durch Handel hieß übersetzt: Wandel durch Profit. Das reimt sich zwar nicht, trifft es aber besser.
Der Ukraine-Krieg hat die Reihen der EU einerseits geschlossen, andererseits Widersprüche deutlicher zutage treten lassen. Der Politologe Maciej Ruczaj, Leiter des polnischen Kulturzentrums in Prag, meint: Der Großteil Europas wollte glauben, dass die Geschichte ein Ende hatte. Die zahlreichen Aufforderungen Polens seit 2006, die energetische Abhängigkeit von Russland zu vermindern, taten Deutschland und Frankreich als einen Ausdruck der polnischen „Russophobie“ ab. Ein Kommentator von Právo, paradoxerweise der Nachfolger des früheren Parteiorgans der Kommunisten, zitiert den amerikanischen Ökonomen Ambrose-Evans Pritchard, welcher die bisherigen Wirtschaftssanktionen als praktisch wirkungslos ansieht. Russland kassiere fürs Erdöl doppelt so viel wie in den letzten Jahren und das einbehaltene russische Vermögen sei bedeutungslos.
Fahren Sie in den Osten – der Besuch lohnt sich!
Zugegebenermaßen ist gerade Tschechien bislang von sehr überschaubarer geopolitischer Bedeutung gewesen. Auf einmal konstatieren tschechische Publizisten, dass Polen mit seinen 2,5 Millionen ukrainischen Flüchtlingen zum Partner aufsteigt. US-Präsident Biden besucht das bislang von deutschen Medien standardmäßig gescholtene Polen, nicht Deutschland. Und auch das tschechische Selbstbewusstsein steigt.
In Berlin dürften wiederum einige bemerkt haben, dass osteuropäische Länder eine wichtige Pufferzone und einen Vorposten darstellen, der indirekt auch Deutschland zu verteidigen bereit sein dürfte, vielleicht – wenn ich böse sein soll – mehr, als Deutschland bereit ist, sich selbst zu verteidigen? Der Westen hätte jetzt die Chance, mehr Interesse für die Nachbarn an den Tag zu legen: Wie heißt etwa der Premierminister Tschechiens, der ohne Geburtstagsgratulationen nach Kiew gefahren ist? Tito vielleicht?
Der Autor ist Anästhesist und Intensivmediziner, Regisseur und Schauspieldozent. Er stammt aus Tschechien.
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