Blick vom Balkan: Die EU zeigt im Ukraine-Krieg ihre Doppelmoral
Der Westen hilft der Ukraine. Man sollte EU und Nato aber nicht als Friedensstifter verklären. Menschen vom Balkan wissen: Die Wahrheit ist komplexer.

„Habt ihr schon ukrainische Flüchtlinge gesehen?“, fragt ein netter älterer Herr, Stammgast eines Cafés in Kreuzberg, den Barista, während er auf seinen morgendlichen Espresso wartete. Der Barista antwortet „Nein“ und arbeitet weiter. Nein, keiner von uns in Kreuzberg hat bisher ukrainische Flüchtlinge gesehen. Sie halten sich meist noch in der Nähe des Hauptbahnhofs auf, von dort aus gehen sie in verschiedene Teile der Stadt, hauptsächlich in die Privatunterkünfte aufnahmewilliger Menschen.
Ich sitze derweil in einer kleinen Küche in Kreuzberg, in einer Wohnung, die ich mir gerade mit einem Freund teile. In unserer Wohnung ist nicht einmal Platz für eine weitere Person, geschweige denn für Teile von zersprengten ukrainischen Familien. Also bleiben wir meistens allein mit unseren Gesprächen in der Küche, unseren Analogien und Analysen: manchmal nüchtern, oft wütend und betrunken.
In der hypervernetzen Welt findet ein weiterer Krieg statt
Wir kommen beide vom Balkan, und wenn wir das Wort „Krieg“ hören, haben wir beide Bilder vom Zerfall Jugoslawiens vor Augen, von Tausenden von Flüchtlingen, die ihre Heimat verlassen, von Völkermord, Zerstörung und Belagerung von Städten in der Zeit von 1991 bis 1996.

Wir sahen die Bomben, die Städte in Serbien trafen, im Jahr 1999. Wir empfinden Wut und Traurigkeit, weil ukrainische Männer, Frauen und Kinder jetzt ähnliche Schrecken durchmachen. So wie seit „unseren Jugoslawienkriegen“ Syrer, Afghanen, Libyer und viele andere ganz ähnliche Schrecken durchgemacht haben und immer noch durchmachen. Von der kleinen Küche meiner Kreuzberger Wohnung aus – von meinem noch immer sicheren Beobachtungsposten auf die Konflikte in der Welt – lese ich deutsche und andere europäische Kommentare zur Lage. Aber auch Kommentare, die vom Balkan kommen.
Die Dualität meines Blicks ist eine Eigenschaft, die mich ausmacht und der ich mich weder entziehen kann noch will. Ich verstehe die Dinge in etwa so: Krieg ist dort, wo Krieg ist, bis er sich ausbreitet, was im aktuellen Fall möglich ist, zumindest wenn man den Analysten glaubt, die den Konflikt verfolgen.
Außerhalb des Kriegsgebiets findet in der heutigen hypervernetzten Welt aber noch ein anderer Krieg statt. In diesem Krieg spielen zwei Parteien eine Rolle, die dazu neigen, die Dinge so weit wie möglich zu vereinfachen. Die eine Partei schmückt sich mit ukrainischen Solidaritätsfähnchen, die auf Social-Media-Profile geklebt werden, um öffentlichkeitswirksam Anteilnahme zu signalisieren. Und die andere Partei ist diejenige, die glaubt, dass es ausreicht, sich blind gegen den Mainstream zu stellen, um zu einer tieferen, wahreren Wahrheit zu gelangen.
Immer häufiger sind Analysen zu hören, die versuchen, die Dinge so einfach wie möglich darzustellen. Eine davon ist besonders beliebt und geht so: Alles, was derzeit in der Ukraine geschieht, geschieht, weil Russland von einem Verrückten regiert wird. Wenn „uns“ auf dem Balkan etwas Ähnliches passiert, dann liegt das an einem anderen Verrückten, der womöglich von einem wieder anderen Verrückten gesteuert wird. Das Ganze wird dann letztlich zu einer Verschwörung gegen die friedliche, zivilisierte westliche Welt, auf deren Beitritt wir Menschen vom Balkan so geduldig warten.
Und das, obwohl wir alle sehr gut wissen, dass dieser lang erträumte Kaiser (die allmächtige EU) keine Kleider hat und dass wir Menschen vom Balkan schon lange nicht mehr in seinen Plänen vorkommen. Die EU und die Nato sahen ruhig zu, als die größten Verbrechen im letzten Jugoslawienkrieg stattfanden. Interessant ist, dass viele Deutsche diesen Verweis auslassen, wenn sie behaupten, dass der Ukraine-Krieg der erste große Krieg auf europäischem Boden nach 1945 sei.
Als die Nato und die EU 1999 Serbien und Montenegro bombardierten, verletzten sie internationale Gesetze – auch wenn sie damals behaupteten, auf einer Friedensmission zu sein. Den Jugoslawien-Krieg sollte man also bei Aufzählungen nicht auslassen, wenn man als Nato-Land auf die Kriegsgeschichte zurückblickt.
Die pro-ukrainische Stimmung könnte kippen
Die Wahrheit ist nicht schwarz-weiß. Weitere Beispiele belegen dies. Die EU und die in den letzten Wochen so oft als „zivilisiert“ bezeichnete Welt haben sich aus ihrer friedensstiftenden Position heraus an vielen Kriegen in verschiedenen Regionen – etwa im Nahen Osten – beteiligt, deren Flüchtlinge dann von den Grenzen der Europäischen Union zurückgedrängt wurden. Die EU und die Nato haben seelenruhig dabei zugesehen, wie etwa die Stadt Grosny (wiederum europäischer Boden) von Putin zerstört wurde. Auch heute noch, trotz Waffenhilfe und Sanktionen gegen Russland, schauen EU und Nato aus der Ferne zu, wie Putin möglicherweise ein weiteres Grosny vorbereitet, diesmal aber auf dem gesamten Staatsgebiet der Ukraine.
In diesen Tagen nimmt Europa die ukrainischen Flüchtlinge mit offenen Armen auf, diese Bilder sind äußerst wichtig. Sie wären aber noch viel wichtiger, wenn wir in letzter Zeit nicht beobachtet hätten, wie die EU andere Flüchtlinge mit Stacheldraht aufgehalten hat, sie im Meer ertrinken ließ und dann Europäer vor Gericht gestellt hat, die versucht hatten, diese Flüchtlinge aus dem Meer zu retten.
Eines Tages, wenn die Schrecken dieses Krieges vorüber sein werden, wird dieselbe EU ukrainische Flüchtlinge zurück in ihre Heimat schicken – in ein Land, das nach den schockierenden Bildern der Ruinen wahrscheinlich für die internationalen Medien nicht mehr interessant sein wird.
Dann werden die ukrainischen Fähnchen aus den sozialen Netzwerken langsam verschwinden. Apple, IKEA, Zara und andere ehrenwerte Kapitalisten werden in aller Stille den russischen Markt zurückerobern und versuchen, ihre entgangenen Gewinne aufzuholen. Die Ukrainer werden in einem verwüsteten Land zurückbleiben, Russen oder einheimische Nationalisten verschiedener Couleur werden an der Macht sein, die Rückkehrer werden ums Überleben kämpfen.
Obendrein wird auch die „harte Linie“ an Nationalisten denjenigen Männern, denen es irgendwie gelungen ist, aus der Ukraine zu fliehen, vermutlich bald vorwerfen, dass sie geflohen sind, als es für ihr Land am schwierigsten war. Es handelt sich dabei um eine Art Tabu, über das nur selten gesprochen wird, denn das Gefühl der Schuld ist eines der am schwersten zu verarbeitenden. Aus diesem Grund sollte die Kritik an der Situation, insbesondere in den Medien, auf mehreren Ebenen vorsichtiger sein.
Putins Verbrechen sind nicht die Verbrechen des russischen Volkes
Es ist gefährlich, ein Klima zu schaffen, in dem die Kritik an der Nato und dem Westen eindeutig zugunsten Putins ausfällt. Genauso gefährlich ist es, in den Medien und im öffentlichen Diskurs Putins Invasion als „russisch“ zu bezeichnen. In einem Interview für die kroatische Zeitschrift „Novosti“ sagte der Philosoph und Mitbegründer von DiEM25, Srećko Horvat, kürzlich: „Wenn wir die Schlagzeilen lesen, die mit ‚Russen beschossen...‘ beginnen, nehmen wir jedes Mal unbewusst die gefährliche Identifizierung von Putins Regierung und dem russischen Volk auf. Wir machen somit Tausende mitschuldig, die im Gefängnis sitzen, weil sie sich Putins Politik widersetzt haben. Wir bestrafen Millionen von Menschen, die unter den Sanktionen leiden oder die im Ausland sind und bereits Opfer von Angriffen wurden. Wir dürfen niemals Putin und seine Kriegsverbrecher mit dem ganzen russischen Volk gleichsetzen.“
Wir, die wir das Glück haben, dass der Krieg uns (noch) nicht getroffen hat, wir also nicht bombardiert, getötet oder aus unseren Städten vertrieben wurden, sollten den Komfort der Sicherheit nutzen, um aufmerksamer zu lesen und uns kritisch zu engagieren, wenn wir uns schon für die Weltthemen interessieren – was wir tun sollten, da wir auch zu den „Grenzgebieten“ der Konfliktparteien gehören.
Die Westeuropäer sind in Sicherheit
Russophobie kann nicht die Antwort auf den Krieg sein. Die Annullierung von Tschaikowsky oder die Angst vor Dostojewski gehören zu den größten Unsinnigkeiten, die aus der aktuellen Krise in die Öffentlichkeit gesickert sind, und davon gab es viele. Der Bedarf an schnellen, einfachen Erklärungen ist auf jeder Ebene offensichtlich. Aber eine ganze Nation als „feindlich“ oder eine ganze Kultur als „völkermörderisch“ zu bezeichnen, ist weit entfernt von der Idee einer „europäischen Zivilisation“, von der so oft in Europa die Rede ist.
Der Ukraine-Krieg hat auch den Typ eines weißen europäischen Mannes oder einer weißen europäischen Frau ans Licht gebracht, die um ihr Leben fliehen. Viele in Europa versuchen nicht einmal mehr zu verbergen, wie viel leichter es ihm oder ihr fällt, mehr Empathie für Menschen mit blonden Haaren und blauen Augen zu empfinden als etwa für Geflüchtete aus Syrien.
Anstatt im öffentlichen Diskurs Gräben zuzuschütten, ist systemische Kritik jetzt sehr viel wichtiger. Eine Kritik, die uns helfen könnte, nicht so leicht zuzulassen, dass sich wiederholt, was vielen Ländern widerfuhr, die den Interessen der „Großen“ ausgesetzt sind. Das Gebiet des ehemaligen Jugoslawien hatte schon einmal auf seinem Territorium zu spüren bekommen, wie hartnäckig das Desinteresse des Westens sein kann, wenn es darum geht, Brände der Weltpolitik zu löschen.
Es wäre naiv und gefährlich, alle politischen und militärischen Fehler des Westens plötzlich vergessen zu machen, nur weil der Westen derzeit auf der „richtigen Seite“ der Geschichte steht, und das aus sicherer Entfernung. Während wir vorhersagen, wie und wie lange Putins Krieg andauern wird, erinnern die Worte des ukrainischen Soziologen und Redaktionsmitglieds des linken Online-Magazins „Спільне“ Denis Gorbač an die Realität vor Ort: „In der Zwischenzeit sind die Ukrainer diejenigen, die für die edlen westlichen Ideale kämpfen und sterben, und ihre Verbündeten sind in Sicherheit, fernab des Konflikts.“
Um zumindest zu versuchen, eine Situation zu vermeiden, in der man für die Ideale der Machthaber stirbt, sollte man zunächst die Fallen der Vereinfachung in Kritik und Analyse umgehen. Denn es eröffnet sehr leicht die Möglichkeit, neue „Spieler“ in ähnliche Konflikte auf europäischem Boden einzubringen. Vor allem dort, wo „Europa“ immer mit geschlossenen Augen hinschaut – im Westbalkan.
Haben Sie eine Meinung zu diesem Text? Schreiben Sie uns! briefe@berliner-zeitung.de
Das ist ein Beitrag, der im Rahmen unserer Open-Source-Initiative eingereicht wurde. Mit Open Source gibt der Berliner Verlag freien Autorinnen und Autoren sowie jedem Interessierten die Möglichkeit, Texte mit inhaltlicher Relevanz und professionellen Qualitätsstandards anzubieten. Ausgewählte Beiträge werden veröffentlicht und honoriert.
Dieser Beitrag unterliegt der Creative Commons Lizenz (CC BY-NC-ND 4.0). Er darf für nicht kommerzielle Zwecke unter Nennung des Autors und der Berliner Zeitung und unter Ausschluss jeglicher Bearbeitung von der Allgemeinheit frei weiterverwendet werden.