Wie der Zweite Weltkrieg meine Freundschaft beeinflusste
Im Zweiten Weltkrieg flohen die Eltern unseres Autors nach Frankreich. Nach dem Krieg stellte er fest: Fast jeder in Deutschland sah sich auf einmal als Opfer.

Mein bester Freund in der 30. Grundschule, in Berlin-Karlshorst, am entgegengesetzten Ende der Ehrlichstraße, war Frank. Mit ihm verbinde ich die erste Erinnerung an das Innenleben einer deutschen Familie. Ich kam ungelegen: Die Familie saß um den Esstisch und speiste. Man verwies mich freundlich auf einen abseitsstehenden Stuhl und bat mich, das Ende des Mahls abzuwarten. Bei uns wurden Besucher, auch nicht eingeladene, aufgefordert, am Tisch Platz zu nehmen und mitzuessen. Das war selbstverständlich.
Frank hatte drei Großmütter. Ich lernte sie zu seiner Konfirmation kennen, 1955. Diesmal war ich eingeladen. Mit Verwunderung hörte ich ihn, der ansonsten wie wir berlinerte, mit einer von ihnen einen Dialekt sprechen, dem Sächsischen ähnlich, das ich zu erkennen gelernt hatte. Sie kam aus dem Erzgebirge, war die Mutter seines leiblichen Vaters. Dieser war als Foto auf dem Vertiko gegenwärtig. Mich schockierten sein Anblick und die Selbstverständlichkeit seiner Präsenz, es kostete mich Mühe, zu verstehen, dass die Uniform und die Armbinde mit dem Hakenkreuz offensichtlich nichts Anstößiges für die Familie meines bestens Schulfreundes hatten.
Es waren nicht nur die verschiedene Auffassung von Gastfreundschaft und das zur Schau gestellte Symbol, das uns trennte. Sein Gerechtigkeitsgefühl war zutiefst verletzt, als er erfuhr, dass wir – meine Mutter, mein Bruder und ich – als anerkannte „Opfer des Faschismus“ drei Lebensmittelkarten der Kategorie A hatten, also mehr Butter, Fleisch, Zucker als seine Familie, zu geringeren Preisen als in der HO, dem staatlichen Handel ohne Karten, kaufen konnten. „Mein Vater ist an der Ostfront gefallen, wir sind genauso Opfer wie ihr.“

Meine Argumente nützten nichts. „Dein Vater hat sich an einem ungerechten Krieg beteiligt, er war vielleicht an Verbrechen im Osten beteiligt, auch wenn du davon nichts weiß. Er trägt eine Verantwortung für den Krieg, dessen Opfer er wurde. Erst Täter, dann Opfer. Das ist nicht das Gleiche wie in meinem Fall: Mein Vater hat gegen die Nazis gekämpft, bevor sie an die Macht kamen, 1933 musste er aus seinem Land fliehen, um sein Leben zu retten, er hat die Nazis in Frankreich weiter bekämpft, bis zu seinem Tod, kurz vor Kriegsende.“
„Hätten Dein Vater und viele andere den Machtantritt der Nazis verhindert, hätte dieser Krieg nicht stattgefunden. Also sind Opfer und Opfer nicht gleich, und unsere A-Karten gerechtfertigt, auch wenn wir nicht Schwerstarbeiter sind. Und wir mussten vieles entbehren zu einer Zeit, als es den Deutschen auf Kosten der aus den eroberten und besetzten Ländern geraubten Lebensmitteln und Waren und Rohstoffen gut ging, mindestens bis zur Wende in Stalingrad und den Bombardierungen der deutschen Städte.“

„Ich traf nur Opfer“
Ich verschwieg bei unserem Streit ein Detail, vielleicht schien es mir zu massiv (auch wenn mir damals der später von Martin Walser geprägte Begriff der „Auschwitzkeule“ fremd war), vielleicht auch nur, weil es für mich abstrakt war, meine Vorstellung überschritt, weil mich mit diesen Verwandten, deren Namen ich kaum kannte, nichts verband, nicht die geringste Erinnerung.
Die Mutter meiner Mutter, meine Großmutter, Berta Wohlgemuth, geborene Rosenthal, mein Onkel Paul Wohlgemuth, seine Frau und ihr 15-jähriger Sohn Siegfried waren im Dezember 1942 aus der Kleiststraße in Berlin nach Auschwitz deportiert worden. Sie gehörten nicht zu den wenigen Überlebenden, die am 27. Januar 1945, vor 78 Jahren, von der Roten Armee befreit wurden, als sie bei ihrem Vormarsch nach Westen zufällig auf dieses größte Vernichtungslager der Nazis stieß, in dem im Zeitraum von fünf Jahren mehr als 1.100.000 Frauen, Kinder und Männer ermordet wurden, 900.000 von ihnen am Tag ihrer Ankunft. 90 Prozent von ihnen waren Juden.
Wären meine Eltern nicht rechtzeitig nach Frankreich emigriert, hätte sich mein Streitgespräch mit Frank wohl erübrigt. Das alles schien mir einfach und verständlich, auch ohne Auschwitz. Doch ich traf nur Opfer. Sie hatten nicht nur an der Front gefallene Familienangehörige zu beklagen, sie hatten alles verloren, als sie „ausgebombt“ oder aus den Ostgebieten verjagt wurden. Und auch nach Kriegsende waren sie Opfer. Die Russen vergewaltigten nicht nur die Frauen, sie stahlen auch Fahrräder und Uhren und sogar das Eingemachte aus den Kellern.
Und immer wieder musste ich hören, wie sie die gestohlenen Kartoffeln in den Klobecken wuschen und, nachdem sie die Spülung gezogen hatten, wütend „zappzarapp“ riefen. Die übliche Redeweise für diese zurückgebliebenen Barbaren blieb noch lange „der Russe“ oder „der Iwan“, bis aus ihnen bei denen, die sich den neuen Verhältnissen besonders gut anpassten, „die Freunde“ wurden.
Mit Frank verband mich nicht nur der gleiche Stern am Dezemberhimmel, unter dem wir am selben Tag geboren wurden. Wir teilten Erlebnisse, die uns über Gräben der Vergangenheit in der Gegenwart vereinten, und hegten auch ähnliche Zukunftsträume. Wir sahen uns als Schriftsteller, Brecht gehörte zu unseren Vorbildern. In der damaligen DDR herrschte nicht nur Mangel, der Überfluss konnte zum Problem werden – aufgrund von Mangel. 1955 gab es eine plötzliche Überproduktion von Blumenkohl.
Die HO oder der Konsum verfügten wieder einmal nicht über freie Mitarbeiter, wie so oft hieß es: „keine Leute, keine Leute ...“, was mehrere Ursachen hatte: regelmäßige Abwanderung in Richtung Westen (bis zum Bau der Mauer 1961 verlor die DDR etwas zwei Millionen ihrer Bürger, was sich nach ihrer Öffnung 1989 wiederholte), aber auch mangelhafte Organisation, Desinteresse, Verantwortungslosigkeit, Laisser-faire und Laisser-aller.

Blumenkohl und Bertolt Brecht
Doch es gab auch Ausnahmen. Statt die aus dem Oderbruch plötzlich hereingebrochenen, nicht geplanten Köpfe einfach verfaulen oder verdorren zu lassen, kam ein pfiffiger staatlicher Leiter auf den Einfall, sich an unsere Schule zu wenden und darum zu bitten, Schüler mit guten Noten in Mathematik für einige Stunden freizustellen, um diese Köpfe unter die Leute zu bringen. Frank und ich waren bereit, uns in dieser Rolle zu versuchen.
Gegenüber vom S-Bahnhof Karlshorst, an der Ecke vor dem Kaufhaus, wurden die Kisten mit dem frischen Gemüse aufgestapelt, eine lange Holzplatte auf zwei Stützen gelegt, und selbst eine Kasse fand sich. Dieses minimalistische Bühnenbild entsprach dem von uns verehrten Theater Brechts. Und der zu verkaufende Gegenstand evozierte seine 1941 im US-Exil verfasste „Historienfarce“, Arturo Ui.
Frank erinnerte sich später: „Du hast Dich lautstark und erfolgreich buchstäblich als Marktschreier betätigt und hast gesagt: ‚Da kommen die Anlagen meiner Vorfahren zur Geltung!‘ Da ich zu diesem Zeitpunkt zwar deine Mutter und deinen Bruder kannte, aber darüber hinaus von deiner Familie überhaupt keine Ahnung hatte, erinnere ich mich, dass ich mich fragte: ‚Wie meint er das? Waren seine Vorfahren Verkäufer?‘“.
Etwa zwei Jahre später konzipierten, inszenierten wir an der Kant-Oberschule einen Brecht-Abend. „Und was bekam des Soldaten Weib“ war eines der Gedichte, das wir in Szene setzten. Natürlich durften Kostüme nicht fehlen. Kurz entschlossen gingen wir zum Berliner Ensemble. Der Pförtner wies uns den Weg zur Intendanz, deren Tür ich mit dem Ruf aufriss: „Wir brauchen Uniformen!“ Elisabeth Hauptmann, sie saß mit einer Gesäßhälfte auf ihrem Schreibtisch, lachte und antwortete: „Guten Tag, erst mal.“
Wir trugen ihr unseren Plan vor, der ihr offensichtlich gefiel. In der Kostümabteilung empfingen wir Wehrmachtsuniformen, einschließlich der Knobelbecher genannten Stiefel. Unser Programm wurde gut von den Schülern und Lehrern aufgenommen und Brecht kam so sehr in Mode, dass mehrere Jungs zur Brecht-Frisur, kurz geschnittene, in die Stirn gekämmte Haare, übergingen.

Eine Kur gegen Bewegungsarmut
Nach dem Abitur hat sich Frank von unserer gemeinsamen Leidenschaft für die Literatur entfernt, es vorgezogen, Medizin zu studieren. Auch im Sozialismus war Arzt ein anerkannter, gut bezahlter Beruf. Trotz unserer divergierenden Lebenswege pflegten wir einen losen Kontakt, gratulierten uns zu unserem Geburtstag. Einmal lud mich Frank als Patient in seine Praxis ein. Er konnte keine Besonderheiten diagnostizieren, verschrieb mir, quasi als Freundesgeschenk, eine Kur gegen Bewegungsarmut.
Mein Institutsdirektor, der den Kurschein gegenzeichnen musste, bevor er der Krankenkasse eingereicht werden konnte, amüsierte sich köstlich über den Begriff „Bewegungsarmut“ – nicht nur bei der Unterzeichnung, sondern in den kommenden Jahren, bei jeder passenden oder unpassenden Gelegenheit.
Einmal sah ich Frank im Fernsehen. Der Genosse Chefarzt sprach auf dem Parteitag der SED. Zu meinem 70. Geburtstag lud ich Frank ein, doch er zog es vor, seinen 69. im Kreis seiner Familie zu feiern. Ein Jahr später fuhr ich in den Berliner Vorort, wo er sein Jubiläum beging – im gemieteten Saal des größten Restaurants am Platze. An einer langen Tafel saß die zahlreich herbeigereiste Familie. Darunter ein Oberst der Bundeswehr, der die Laudatio sprach. Er beklagte das Unrecht, das Frank widerfahren war.
Als ehemaliger Chefarzt und Mitglied der SED hatte er mit dem Mauerfall seinen Posten verloren, und auch seine Rente hatte gelitten. Nun musste er weiter praktizieren, um sein Leben weiter standesgemäß führen zu können. Ich hörte diese Rede an einem kleinen Nebentisch, an den einstige Schulfreunde und Kollegen verwiesen worden waren, dachte an den Anfang unserer Freundschaft zurück.
Am späten Abend begleitete sein Sohn die Gäste des Katzentisches zum Bahnhof. Er war Arzt geworden, hatte die ehemaligen KZ-Überlebenden und Opfer des Faschismus kennengelernt, die sein Vater betreute. Das hatte ihn bewegt, nach dem Fall der Mauer einige Jahre in Israel zu arbeiten und schließlich zum Judentum zu konvertieren. Zwischen uns entstand eine Vertrautheit, die mich nicht mehr mit seinem Vater verband. Seit einigen Jahren gratulieren wir uns nicht mehr zum Geburtstag. Wir haben uns aus den Augen und auch aus den Ohren verloren, doch manchmal denke ich an ihn zurück.
Vincent von Wroblewsky ist ein deutscher Philosoph, Autor und Übersetzer. Im April 2023 wird sein autobiografischer Text „Vermutlich Deutscher“ im Merlin-Verlag, Gifkendorf, erscheinen.
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