Widerstand in der frühen DDR: Das brutale Schicksal der Belter-Gruppe
Eine Gruppe um den Studenten Herbert Belter verteilte in den frühen 50er-Jahren Flugblätter gegen das SED-Regime. Ihre Mitglieder wurden hart bestraft.

Wenn Herbert Belter nach West-Berlin fuhr, dann verspürte er stets den Geruch der Freiheit, den er in Leipzig so vermisste. Man schrieb das Jahr 1950, die DDR war ein Jahr zuvor gegründet worden. Belter war Student der Gesellschaftswissenshaften. Aus kleinen Verhältnissen stammend – Vater Eisenbahnschaffner, Mutter Hausfrau – galt er den neuen Machthabern von der SED als Arbeiterkind. Sie ermöglichten ihm ein Studium, was unter anderen Verhältnissen schwer bis unmöglich für ihn gewesen wäre.
Herbert war dankbar für diese Chance. Zunächst zumindest. Aber nach ein paar Monaten an der Universität begann der wache junge Mann, den selbsternannten Arbeiter- und Bauernstaat und die herrschende SED immer kritischer zu sehen. „Vor allem der Konformismus, die Tatsache, dass wir als junge Menschen bei der FDJ wieder Uniformen tragen sollten, zu Aufmärschen gehen mussten, und Einfluss auf unsere politische Meinung genommen wurde, störte uns gewaltig“, erinnert sich sein Bekannter Otto Bachmann Jahrzehnte später. „Das kam uns alles bekannt vor – aus der Nazi-Zeit. Und jetzt ging das schon wieder los. Dagegen wollten wir uns wehren.“
Im Frühherbst 1950 bereitete die SED die Wahlen zur Nationalversammlung vor. Mit einer freien und demokratischen Wahl hatte das nicht viel zu tun. Die SED wurde systematisch bevorzugt, die bürgerlichen Parteien konsequent benachteiligt. Oppositionelle wurden verhaftet, bedrängt oder flohen in den Westen. Herbert Belters Einstellung zu den politischen Verhältnissen wurde im Wochentakt kritischer. Belter reiste regelmäßig nach Berlin und fuhr in den Westteil der Stadt, was 1950 problemlos möglich war.

Er knüpfte Kontakte zu Gerhard Löwenthal, einem Journalisten des Rundfunksenders Radio im Amerikanischen Sektor, kurz RIAS Berlin, der der SED mit seiner scharfen Anti-DDR-Propaganda ein Dorn im Auge war. Belter versorgte Löwenthal mit Informationen über die Uni in Leipzig und erhielt im Gegenzug Propagandamaterial und DDR-kritische Westzeitschriften, die er unter den Kommilitonen verteilen sollte. Und er lernte Kommilitonen wie Otto Bachmann und Günter Herrmann kennen, die ebenfalls sehr kritisch über die SED dachten.
Insgesamt wuchs die Gruppe bald auf neun Studenten und einen Lehrling an, alle zwischen 19 und 21 Jahre alt. Tatsächlich um eine „Gruppe“ handelte es sich allerdings nicht. Es war eher ein lockerer Verbund. „Wir kannten uns damals nicht einmal alle untereinander“, erinnert sich Günter Herrmann. Man traf sich in Leipziger Kneipen wie Auerbachs Keller, diskutierte über die politische Situation und darüber, wie man die Kommilitonen und andere Leipziger aufrütteln könnte.
Günter Herrmann: „Unser Vorbild war die Weiße Rose“
Einige der Studenten verteilten heimlich Flugblätter oder ließen antikommunistische Westzeitungen absichtlich irgendwo in der Universität liegen. „Ich war mir sehr wohl bewusst, dass alleine das schon gefährlich sein konnte. Richtigen Widerstand hätte ich zu dieser Zeit nicht geleistet“, sagt Günter Herrmann. Ein Jahr später vielleicht schon – aber da hatten K5 – der Vorläufer der Staatssicherheit – und der sowjetische Geheimdienst längst zugeschlagen. Herrmann: „Unser Vorbild war die Münchner Studentengruppe Weiße Rose und ihr Widerstand gegen die Nazis.“

Belter hatte von konspirativer Untergrundtätigkeit keine Ahnung, und so kam es, wie es kommen musste. Er geriet in die Fänge der Volkspolizei, als er in der Nacht zum 5. Oktober 1950 gemeinsam mit einem Bekannten aufgegriffen wurde. Ein dummer Zufall: Tatsächlich hatten beide zuvor illegale Flugblätter an Hauswände geklebt. Doch mitgenommen zur Polizeiwache wurden sie, weil sie ihre Ausweise nicht wie vorgeschrieben bei sich trugen. Bei einer Durchsuchung seiner Wohnung wurden Propagandamaterial und Westzeitungen gefunden.
Schnell gerieten auch Herbert Belters Bekannte ins Visier der Ermittler. Neun Studenten und ein Lehrling waren schließlich in den Fängen der Polizei, darunter neben Belter auch Günter Herrmann und Otto Bachmann. Sie wurde in die Hände des russischen Geheimdienstes übergeben und nach Dresden ins Gefängnis gebracht. Hier begann die Hölle. „Die nächsten Wochen waren einfach unmenschlich“, erinnert sich Günter Herrmann. Die jungen Männer wurden auf verschiedene Zellen verteilt, in denen jeweils zehn Männer und mehr hausten.
Tagsüber war es verboten, sich auf die harten Pritschen zu setzen oder gar zu legen und zu schlafen. Waschen, duschen, die Haare schneiden oder den Bart stutzen war unmöglich, die Kleider durften nicht gewechselt werden. Flöhe waren ständige Begleiter, es gab kein Tageslicht. Ihre Notdurft mussten die Männer in einen Eimer machen, der in einer Ecke stand und nur einmal am Tag geleert wurde. „Der Gestank war einfach unerträglich“, so Otto Bachmann.
Ihre Familien wurden nicht informiert, sodass sie für ihre Eltern oder Geschwister einfach spurlos verschwanden. Dann kamen die Verhöre. Wochenlang, jede Nacht, wurden Belter, Bachmann, Herrmann und die anderen vernommen. Eine Stunde nach dem Einschlafen wurden sie geweckt, in den Verhörraum gebracht, eine grelle Lampe strahlte ihnen ins Gesicht. „Der Offizier, der uns verhörte, saß irgendwo im Dunklen, ich konnte ihn gar nicht sehen“, so Bachmann. Und immer wieder dieselben Fragen. Warum habt ihr Widerstand geleistet? Wer gehört noch zu der Gruppe? Welche Kontakte habt ihr in den Westen?
Strenge Urteile
Mit einem Rechtsstaat hatte das alles gar nichts zu tun. „Wir wurden von den Russen verhört, das war nach der gültigen DDR-Verfassung gar nicht erlaubt“, so Günter Herrmann. Nach Wochen dieser Tortur waren die jungen Männer schließlich so ängstlich und verzweifelt, dass sie alles „gestanden“ hätten, nur um in Ruhe gelassen zu werden. Otto Bachmann: „Wir fühlten uns müde, nackt, ungewaschen, demoralisiert, ausgeliefert. Die wollten uns brechen.“
Die sowjetischen Verhörer gingen davon aus, einer großen und sehr aktiven Widerstandsgruppe auf die Spur gekommen zu sein. Das war zwar völlig aus der Luft gegriffen, die jungen Männer hatten lediglich ein paar Flugblätter und Zeitschriften verteilt und ein paar Informationen über die Leipziger Universität an den RIAS gegeben. Aber Herbert Belter hatte etwas ganz Dummes getan: Er hatte in einem Notizbuch für jedes Mitglied der Gruppe einen Decknamen aufgeschrieben – und das schien darauf hinzudeuten, dass es sich bei der Gruppe um gut organisierten Widerstand handelte.
„Davon wussten wir überhaupt nichts“, sagt Otto Bachmann Jahrzehnte später. Warum Belter diese Decknamen aufschrieb, bleibt für immer sein Geheimnis. Nach den Verhören kam es schließlich zur „Gerichtsverhandlung“. Auch die hatte mit rechtsstaatlichen Regeln nicht das Geringste zu tun. Sie fand auf Russisch statt, obwohl keiner der Studenten Russisch sprach.

„Das Ganze war eine Farce und das Urteil stand vorher fest“, so Bachmann. Die jungen Männer begriffen gar nicht richtig, was da vorging. „Nach der Urteilsverkündung mussten wir alle zusammen in einem Raum warten, bis wir abgeholt wurden. Wir haben gelacht, weil die Urteile so vollkommen absurd waren und wir nicht glauben konnten, was gerade passiert war“, so Herrmann. Doch die Urteile waren real und hatten es tatsächlich in sich. Herbert Belter wurde als „Rädelsführer“ zum Tode verurteilt, die anderen zu zehn bis 25 Jahren Arbeitslager in Sibirien.
Ein Gnadengesuch Belters wurde abgelehnt. Er wurde nach Moskau gebracht und hingerichtet. Herbert Belter wurde nur 21 Jahre alt. Die anderen kamen in sibirische Lager. Sie hatten Glück im Unglück, denn sie wurden nach Stalins Tod 1953 entlassen. Alle flohen sofort nach ihrer Rückkehr in den Westen. Dass Herbert Belter tatsächlich hingerichtet worden war, erfuhren die anderen erst nach dem Fall der Mauer. Seine Eltern erfuhren nie, was mit ihrem Sohn geschehen war – sie starben zu DDR-Zeiten, ohne jemals wieder etwas von ihm gehört zu haben. In den 90er-Jahren wurden alle Urteile von den russischen Behörden einkassiert, die Verurteilten wurden rehabilitiert. Für Herbert Belter kam dieser Schritt zu spät.
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