Ukraine-Konflikt: Mehr Waffenlieferungen werden den Krieg nicht beenden

Deutschland hat zugestimmt, Panzer an die Ukraine zu liefern. Unser Autor hat Angst vor einer Eskalation und plädiert für Diplomatie.

Ein Leopard 2A6 Kampfpanzer der Bundeswehr
Ein Leopard 2A6 Kampfpanzer der BundeswehrDavid Inderlied/imago

Der Antrieb für meinen Leserbriefartikel ist Angst. Und sollten Denken und Handeln der Politiker und Journalisten dem entsprechen, was in den Medien gedruckt oder besprochen wird, habe ich auch allen Grund dazu. UN-Generalsekretär António Guterres warnte am 6. Februar vor der UN-Generalversammlung vor einer Ausweitung des Ukraine-Krieges zu einem „größeren Krieg“ – der Krieg ist jetzt schon viel zu „groß“.

Wenn man den maßgeblichen Zeitungen und den Fernsehdebatten in den für die Vermittlung der Regierungspolitik zuständigen Kanälen des öffentlich-rechtlichen Rundfunks Glauben schenkt, scheint es nichts Wichtigeres zu geben, als immer schwerere Waffen in die Ukraine zu liefern. Da nützen auch die beruhigenden Worte des Kanzlers nach der Zusage von Panzerlieferungen nicht, mit denen er um Vertrauen in das besonnene Handeln der Bundesregierung warb.

Mehrere vormals „rote Linien“ sind gefallen – Artillerie, Schützenpanzer, zuletzt eben Panzer. Wer soll glauben, dass dies bei Kampfflugzeugen, U-Booten und Raketen mit längerer Reichweite nicht genauso geschieht? Eine völkerrechtlich bedeutsame Grenze einer sicheren Nichtkriegsteilnahme ist nach dem Gutachten der wissenschaftlichen Dienste des Bundestages vom 16.03.22 inzwischen überschritten: „… wenn neben der Belieferung mit Waffen auch die Einweisung der Konfliktpartei bzw. Ausbildung an solchen Waffen in Rede stünde, würde man den gesicherten Bereich der Nichtkriegsführung verlassen.“

Oleksij Resnikow, Verteidigungsminister der Ukraine, zeigt sein Taschentuch mit dem Bild eines Kampfjets vor der Sitzung des Nordatlantikrats am runden Tisch der Nato-Verteidigungsminister im Nato-Hauptquartier.
Oleksij Resnikow, Verteidigungsminister der Ukraine, zeigt sein Taschentuch mit dem Bild eines Kampfjets vor der Sitzung des Nordatlantikrats am runden Tisch der Nato-Verteidigungsminister im Nato-Hauptquartier.Olivier Matthys/AP

Die regierungsnahe Stiftung Wissenschaft und Politik schreibt am 2. Februar dieses Jahres, dass „in völkerrechtlicher Hinsicht [...] sich jedoch die Frage [stellt], wann das Unterstützen in einem bewaffneten Konflikt in eine indirekte Gewaltanwendung umschlägt. Dann müsste nämlich das kollektive Selbstverteidigungsrecht in Anspruch genommen werden. Und man könnte sich kaum mehr darauf berufen, nicht Konfliktpartei zu sein.“

Rote Linien und völkerrechtliche Grenzen zu überschreiten, heißt nicht mehr und nicht weniger, als in einen (abgesehen von den leichtfertigen Worten der deutschen Außenministerin) unerklärten Krieg mit Russland zu geraten. Gefahren dieser Art erwachsen nicht nur aus dem Handeln der Bundesregierung, sondern auch aus Lieferungen und sonstigen Unterstützungsleistungen wie Ausbildung und Logistik weiterer Nato-Staaten, insbesondere der USA und Großbritanniens. Eine Form der Kriegsteilnahme der USA ist nachgewiesen und überschreitet zweifellos völkerrechtliche Grenzen.

Risiko eines Atomkriegs unkalkulierbar

Die Washington Post titelt am 9. Februar „Die ukrainische Raketenkampagne beruht auf US-Zielvorgaben“ und bezieht sich auf ukrainische und amerikanische Angaben bezüglich des Einsatzes von HIMARS- und M270-Raketenwerfern. Nicht zu vergessen die direkte Kriegsteilnahme von „staatenlosen Freiwilligen“ aus aller Herren Länder, die bei Gefangennahme identifiziert werden können. Der russische Bär ist zwar langsam, aber in die Enge getrieben könnte er sich an sein nicht unbedeutendes Atomwaffenarsenal erinnern, das, nur zur Erinnerung, inzwischen auch nicht abfangbare Hyperschallraketen enthält.

Auch wenn Zitate nicht unbedingt weiterhelfen, über manche sollte man doch länger nachdenken als ein paar Minuten zwischen zwei Twitter-Nachrichten. Der ehemalige Präsident der Vereinigten Staaten, John. F. Kennedy, sagte im Jahre 1962: „Vor allem müssen Atommächte, bei steter Verteidigung der eigenen Lebensinteressen, solche Konfrontationen vermeiden, die einem Gegner nur die Wahl eines demütigenden Rückzugs oder eines Atomkriegs lassen.“ Schon die Tatsache, dass einer der Kriegsteilnehmer in der Ukraine Kernwaffenmacht ist, lässt die Wahrscheinlichkeit eines Atomkriegs „aus Versehen“, hervorgerufen durch permanenten Stress oder wegen eines technischen Fehlers, unkalkulierbar wachsen.

Um wieder auf Deutschland zu kommen: Mit welchem Recht wird die Meinung der Bevölkerung zu Waffenlieferungen ignoriert? Mit Stand vom 25.01.23 18:00 Uhr fanden bei einer Umfrage des MDR mit 28.000 Teilnehmern (also statistisch repräsentativ) zu Panzerlieferungen an die Ukraine diese zu 24 Prozent richtig und zu 74 Prozent falsch. Der Tagesspiegel berichtet am 1. Februar vom Ergebnis einer Forsa-Umfrage, nach der 72 Prozent der Deutschen angeben, Angst vor einer Ausweitung des Ukraine-Krieges zu haben.

Die Skepsis der Bürger speist sich aus mehreren Quellen. Sie wollen nicht in einem Krieg, der nicht der ihre ist, zur Zielscheibe werden. Sie wissen, dass die jetzige Politikergeneration über deren Elterngeneration kaum noch Zugang zu Erinnerungen von Kriegsteilnehmern und Zivilisten des Zweiten Weltkriegs hat, sodass das Vorstellungsvermögen, was Krieg im eigenen Land wirklich bedeutet, verloren geht – oder aber, nach den Reden einiger zu urteilen, bereits verloren gegangen ist.

Noch weniger verbreitet sind Kenntnisse über die Folgen eines Atomwaffeneinsatzes und die Fähigkeit, dessen Konsequenzen zu begreifen. Floskeln von Politikern, diese Gefahr sei ausgeschlossen, werden durch einen aktuellen Bericht des IPPNW konterkariert. Warum wurde in der Ukraine eine Umfrage durchgeführt, ob die Ukrainer den Widerstand gegen Russland auch nach dem Einsatz einer taktischen Atomwaffe fortsetzen würden? Diese Frage wurde mit Ja beantwortet. Viele wissen auch, dass der Ukraine-Krieg nicht, wie in den meisten Medien behauptet, anlasslos am 24. Februar 2022 begann, sondern eine Vorgeschichte seit dem Staatsstreich (Maidan) 2014 und dem anschließenden Bürgerkrieg im Donbass hat.

Dieser forderte bis 2020 nach Angeben der OSZE 14.000 Todesopfer, davon ungefähr drei Viertel aufseiten der beiden Donbass-Republiken. Der ultimativ so bezeichnete Angriffskrieg ist ein Präventivkrieg Russlands, der nichtsdestoweniger völkerrechtswidrig ist. Beunruhigend sind auch Informationen zu wirtschaftlichen Interessen der agierenden Politiker und der hinter ihnen stehenden Netzwerke, über Verbindungen zwischen Politikern von Nato-Staaten zu deren Waffenlobby und -industrie – und nicht zuletzt die gewaltigen Rüstungsetats, die zwangsläufig ihre eigene Dynamik entwickeln.

Boris Pistorius reist nach Kiew.
Boris Pistorius reist nach Kiew.Kay Nietfeld/dpa

Gewinner sind Rüstungsunternehmen

Dass eine Firma wie Rheinmetall bei einer Gewinnsteigerung von 129 Prozent im Vergleich zum Vorjahr und der Perspektive des fortdauernden Krieges sowie des 100 Milliarden Euro schweren Rüstungspakets der Bundesregierung eigenen Interessen folgt, ist nicht schwer zu verstehen. In noch bedenklicheren Größenordnungen bewegen sich die Exporte der US-Rüstungskonzerne an Nato-Partner, die sich im Jahresvergleich 2022 zu 2021 fast verdoppelt haben; von 15,5 Milliarden auf 28 Milliarden US-Dollar. Größe und Dynamik der Geldströme beeinflussen zwangsläufig politische Entscheidungsprozesse; eine weitere Quelle meiner Angst.

Diese wird auch nicht gemildert, wenn ein Papier der RAND-Corporation, eines einflussreichen Thinktank, der unter anderem für die US-Armee arbeitet, zu Waffenstillstand und Verhandlungen mit Russland rät. Dies könnte auch ein taktischer Beitrag sein, um dem beunruhigten Teil der Bevölkerungen der Alliierten eine Scheinperspektive zu bieten. Denn gleichzeitig erklärte der CIA-Direktor William Burns, dass die nächsten sechs Monate entscheidend für den Ausgang des Ukraine-Kriegs sein würden, also sechs Monate weiterer Waffenlieferungen und unkalkulierbarer Risiken durch weitere Intensivierung der Kämpfe bei zunehmendem Engagement der Nato.

Über den Ex-Premier Israels, Naftali Bennett, berichtete die Berliner Zeitung, dass die USA und Großbritannien im März 2022 einen möglichen Friedensschluss zwischen Russland und der Ukraine verhinderten. Damit hätte der Tod von mindestens 200.000 Menschen vermieden werden können. Jill Stein, die Präsidentschaftskandidatin der grünen Partei der USA, bezeichnete in einem Tweet ihr Land wenig schmeichelhaft als „Warmachine“.

In diesem Krieg gewinnt niemand außer dem militärisch-industriellen Komplex der USA und weiterer Nato-Staaten, der die Milliarden der Steuerzahler einstreicht. Damit nicht genug – Beratungen der Nato zur Nato-Strategie im Ukraine-Krieg finden quasi exterritorial auf dem US-Stützpunkt Ramstein statt, wohin der US-Verteidigungsminister auf deutschem Staatsgebiet den deutschen Verteidigungsminister „einlädt“. Einem Krieg mit taktischen Atomwaffen auf europäischem Boden können die USA von einem anderen Kontinent aus zuschauen.

Die genannten Fakten und Zusammenhänge sind keine Geheimdienstinformationen und insbesondere beruflich gezwungenermaßen gut informierten Politikern und Journalisten bekannt. Die aktuellen Risiken sollten ausreichen, um europaweit zu Besonnenheit und intensiven diplomatischen Bemühungen um die Aufnahme von Verhandlungen zwischen den USA sowie der Ukraine auf der einen und Russland auf der anderen Seite Anlass zu bieten. Das Gegenteil ist der Fall.

Die Positionierung der ständigen Forderungen nach mehr Waffenlieferungen an vorderster Stelle der täglichen Nachrichten – von General Erich Vlad, dem früheren Berater von Angela Merkel, als politische Scharfmacherei bei diesem komplexen Thema kritisiert – ohne ein Korrektiv zurückhaltender, zu diplomatischen Schritten ratender Stimmen, wie es der Meinungslage der Bevölkerung entspräche, erzeugt eine unkontrollierbare, sich verstärkende Eigendynamik (wie Standing Ovations in Parlamenten bei Reden von Selenskyj), was meine Angst verstärkt. Dabei ist klar, dass auch dieser Krieg, den keiner der Beteiligten gewinnen kann, letztendlich durch wie auch immer geartete Verträge beendet werden muss.

Diplomatie und Kompromisse

Alle Anstrengungen müssen deshalb sofort auf diesbezügliche Verhandlungen gerichtet werden, weil nur so – und mitnichten durch weitere Waffenlieferungen – die Leben Tausender Zivilisten und Soldaten, die für diesen Krieg nicht verantwortlich sind und ihn nicht wollten, gerettet werden können. Der von der früheren Umweltpartei per Attribut im Parteinamen eingetragene Zweck ist, wie die Geschehnisse um Lützerath zeigen, im sogenannten Kampf der Demokratien gegen die Autokratien schnell in Vergessenheit geraten.

Einerseits wird ignoriert, dass uns die Klimaerwärmung nach dem Verstummen der Kanonen wegen der verlorenen Zeit umso deutlicher an notwendige Maßnahmen erinnern wird, die wir statt Kriegsgetrommel und Aufrüstung hätten ergreifen müssen; andererseits ist die vorgenannte Losung bei Nato-Verbündeten wie Erdogan und Waffenlieferungen an die saudischen Jemenkrieger und Khashoggi-Mörder pure Heuchelei. Geboten wäre die Rückbesinnung auf Männer wie Bahr, Brandt, Schmidt, auch Genscher, für die auch in den Zeiten des Kalten Krieges Abwägen, Diplomatie und Kompromisse keine Fremdworte waren.

Die Angst, als eine oder einer von wenigen gegen den Strom zu schwimmen und damit seine Karriere zu gefährden, sollte in Anbetracht der Risiken, in einen nicht beherrschbaren Krieg ungewollt, aber verantwortlich zu geraten, nicht die einzige Handlungsgrundlage der jetzigen Verantwortlichen sein. Sie haben bei Amtsübernahme geschworen, „Schaden vom deutschen Volk abzuwenden“ und nicht bedingungslos mit wenig durchdachten Sanktionen und riskanten Waffenlieferungen den Interessen der USA und der Ukraine (nicht denen derer Bevölkerungen!) zu folgen; gleichgültig, was es für die Menschen im Land bedeutet.

Auch Industriebestände von Kampfpanzern des Typs Leopard 1 sollen in die Ukraine geliefert werden. 
Auch Industriebestände von Kampfpanzern des Typs Leopard 1 sollen in die Ukraine geliefert werden. Constanze Emde/dpa

Solange die Bundesregierung nicht beginnt, durch klares und besonnenes Reden und Handeln die Ängste der Bürger ernst zu nehmen (der Einfluss Deutschlands auf die USA ist allerdings gering), bleibt nur, sich an Aktionen der Friedensbewegung und der Gewerkschaften zu beteiligen sowie weiter Briefe zu schreiben. Der Fridays-for-Future-Bewegung wird durch den Ukraine-Krieg der Zusammenhang von Klima, Aufrüstung und Krieg deutlich vor Augen geführt; möglicherweise engagiert sie sich künftig für Klimaschutz und Frieden. Roger Waters, Alice Schwarzer, Sahra Wagenknecht und Johannes Varwick können es nicht allein schaffen.

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