Eine Erwiderung auf Egon Krenz: „Konfusionen und Illusionen in der SED“

Suchten SPD und SED über Ländergrenzen hinweg die Verständigung? Egon Krenz analysierte für die Berliner Zeitung das SPD-SED-Dialogpapier von 1987. Eine Erwiderung.

Egon Krenz
Egon KrenzBerliner Zeitung/Paulus Ponizak

Egon Krenz schreibt wieder einmal die Geschichte um. Diesmal fleddert das letzte SED-Staatsoberhaupt der DDR das am 27. August 1987 veröffentlichte, von Gremien der SPD und der SED gemeinsam erarbeitete Positionspapier „Der Streit der Ideologien und die gemeinsame Sicherheit“. Krenz deutet es, ohne Rücksicht auf die Fakten, so aus, wie es in sein gestriges Weltbild passt.

Er klaubt sich nur die Passagen heraus, die er als „gemeinsame Friedensinitiative von SED und SPD“ rühmen kann – wobei seine Gleichsetzung der „Parteichefs Willy Brandt (SPD) und Erich Honecker (SED)“, des Friedensnobelpreisträgers und des Schießbefehl-Erfinders, recht pervers ist. Die ihm unliebsamen Aspekte des Papiers unterschlägt Krenz, vor allem die, in denen es um Meinungs- und Informationsfreiheit geht. Krenz wendet also dieselbe Methode an, die die SED-Führung schon 1987 verfolgte: Nachdem die Partei erkannt hatte, was sie sich mit dem Papier eingebrockt hatte, interpretierte sie dessen Inhalt kurzerhand um.

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Ein halsbrecherischer Akt

Das von der SPD-Grundwertekommission und der Akademie der Gesellschaftswissenschaften beim SED-Zentralkomitee verfasste Papier verlangte unter anderem auch, dass die Ost-Berliner Machthaber die offene Diskussion in ihrem eigenen Herrschaftsbereich nicht nur zulassen, sondern sogar fördern sollten. Starker Tobak für die DDR-Kommunisten waren Begrifflichkeiten wie „grundsätzliche Friedensfähigkeit der anderen Seite, Abbau von Feindbildern, freie Information und offene Diskussion innerhalb jedes Systems, wobei gegenseitige Kritik nicht als Einmischung in innere Angelegenheiten gelten dürfe“. Solche Absichtserklärungen widersprachen der bisherigen SED-Ideologie.

Rolf Reißig, als Professor an der Akademie für Gesellschaftswissenschaften Mitautor des Dialogpapiers, bestätigte zehn Jahre später im Rückblick, wie riskant dessen Billigung für die SED war. Richtig „halsbrecherisch“ sei das gewesen, weil der angepeilte „Wettbewerb“ die umfassende Information der eigenen Bürger voraussetzte und damit das Wahrheitsmonopol der Partei infrage stellte. Reißig: „Das war revolutionär für mich.“

Die Hardliner in der SED gingen zur Gegenoffensive über

Zu viel Revolution für Krenz und Genossen. Nachdem das SPD-SED-Papier im Neuen Deutschland veröffentlicht worden war, konnte sich jeder DDR-Bürger darauf berufen. Was die beiden Parteien miteinander diskutierten, hätte konsequenterweise innerhalb der DDR nicht mehr zu Strafverfolgungen führen dürfen. Die um ihren Machterhalt besorgte SED unterband daher rasch die öffentliche Diskussion des Papiers, das sie stereotyp immer nur „das Dokument“ nannte.

Die Hardliner in der SED gingen zur Gegenoffensive über. Das „außenpolitische“ Papier werde, so hieß es nun, als innenpolitisches Dokument „missbraucht“. Die SED-Führung leitete eine Missbrauchskampagne ein, die, so Reißig, „den Geist wieder in die Flasche zwingen“ sollte. Die DDR-Medien wurden verdonnert, „nichts mehr zu diesem Thema des Dialogpapiers zu bringen“, da es zu „Konfusionen und Illusionen in der SED“ geführt habe. Das Papier durfte bereits im Herbst 1987 nicht mehr als Broschüre publiziert werden. „Die konservativen Kreise und Apparate der SED konnten sich noch einmal durchsetzen“, zog Reißig Bilanz. „Es wurde jedoch ein Pyrrhussieg, denn die Glaubwürdigkeitskrise der SED-Führung vertiefte sich zusehends.“

Der Ablauf der Sitzung lässt sich nicht objektiv rekonstruieren

Umstritten ist, ob das SED-Politbüro, das am 28. Juli 1987 das Papier absegnete, sich der Tragweite des Beschlusses bewusst war. Das Politbüro tagte an diesem Tag in kleiner Ferienbesetzung, 14 Politbüromitglieder fehlten. Nur zwölf Mitglieder und drei Kandidaten nahmen daran teil, als Egon Krenz in Vertretung des abwesenden Generalsekretärs Honecker, nach der Erörterung von Stand und Ablauf der Getreideernte sowie der Plandiskussion 1986, den Tageordnungspunkt 4 aufrief. Neben Honecker waren auch andere wichtige Mitglieder der engeren Führungsriege und spätere Widersacher des SPD-SED-Papiers abwesend, so Chefideologe Kurt Hager, Stasi-Minister Erich Mielke, Wirtschaftslenker Günter Mittag und Chefpropagandist Joachim Herrmann.

Der Ablauf der Sitzung lässt sich nicht objektiv rekonstruieren. Eine wörtliche Niederschrift gibt es nicht, sondern nur ein dürres Beschlussprotokoll. Reißig stützt sich „auf die im Parteienarchiv vorhandene ausführliche Protokollierung der Diskussion durch Egon Krenz und seine ebenso ausführliche Information über den Verlauf der Sitzung, die er an Erich Honecker schickte, und auf ein mehrstündiges Gespräch mit ihm“. Die Quelle ist immer ausschließlich Egon Krenz.

Heftig sei gestritten worden

Die Folgen des Beschlusses seien von den SED-Oberen unterschätzt worden, sagte Erhard Eppler, der als Vorsitzender der SPD-Grundwertekommission die Gespräche mit der SED-Akademie geführt hatte. Die taz zitierte Eppler 1997 mit dem Satz: „Das Politbüro wusste nicht, was es tat, als es das Papier passieren ließ.“

Krenz kann sich darüber herrlich aufregen. „Heute wird so getan, als hätten weitsichtige SPD-Strategen die Deppen im SED-Politbüro über den Tisch gezogen.“ Auch Manfred Uschner, ehemaliger Mitarbeiter des SED-Zentralkomitees, von 1984 bis 1989 Mitglied der gemeinsamen abrüstungspolitischen Arbeitsgruppe SED/SPD, teilte Epplers These von der Dummheit des Politbüros nicht. Im Gegenteil: Die Sitzung, auf der das SPD-SED-Papier gebilligt wurde, sei mit neun Stunden die längste gewesen, die je stattgefunden habe. Heftig sei gestritten worden, vor allem die Politbüromitglieder Mielke, Hermann Axen und Horst Dohlus hätten opponiert.

Hielt Honecker die Fäden der Westpolitik fest in seinen Händen?

In einem Punkt irrte Uschner: Mielke hat, ausweislich des Protokolls, an der Sitzung nicht teilgenommen. Aber auch im Übrigen weist Krenz Uschners Darstellung zurück. Die Sitzung habe nur eine Stunde gedauert, niemand habe gegen das Papier opponiert, und Dohlus habe kein Wort gesagt. Hingegen berichtet Reißig: „Alle anwesenden Mitglieder und Kandidaten meldeten sich zu Wort.“ Er bestätigt indes auch Krenz’ Schilderung, dass es in der Sitzung nicht zu heftigen Auseinandersetzungen gekommen sei: „Mit Ausnahme von Alfred Neumann befürworteten alle das ‚Dokument‘.“

Die Einmütigkeit überraschte Reißig nicht. „Auch im Politbüro wusste aus der gängigen SED-Praxis jeder, dass Honecker die Fäden der Westpolitik fest in Händen hielt“, schreibt er. Ohne dessen vorherige Zustimmung „wäre ein solch ungewöhnliches Papier, zumal es in der SPD bereits verabschiedet war, kaum dem Politbüro zur Beschlussfassung vorgelegt worden“. Der Ausgang der Beratung im Politbüro sei daher „schon vorbestimmt“ gewesen.

Egon Krenz erkannte die Sprengkraft

Verblüffend, gerade auch für die Autoren des Papiers auf SED-Seite, sei jedoch gewesen, dass die SED-Führung dem Dokument zustimmte, obwohl es für dessen Abfassung keinen Parteiauftrag gegeben und die zuständige ZK-Abteilung Ablehnung signalisiert hatte. Otto Reinhold, der Rektor der Akademie der Gesellschaftswissenschaften der SED, hatte das Papier – am offiziellen Dienstweg vorbei, unter Umgehung seines direkten Vorgesetzten Hager – per Boten dem auf der Ostseeinsel Vilm urlaubenden Generalsekretär Honecker geschickt, bereits anderntags kam es mit dessen Vermerk zurück: „Einverstanden. EH. PB zur Entscheidung vorlegen. Dokument wäre von großer historischer Bedeutung – für Diskussion und Aktion der Arbeiterbewegung.“

Damals erkannte auch Egon Krenz noch, welche Sprengkraft von dem innenpolitischen Teil des Papiers ausging, den er heute leugnet. Zur Vorbereitung der Politbürositzung, berichtet Reißig, habe Krenz „einige Fragen und Anmerkungen […] handschriftlich notiert“. So habe er „eher besorgt“ gefragt, „ob die Forderung im Papier nach ‚umfassender Informiertheit der Bürger‘ und nach Austausch von ‚Zeitungen und gedruckten Veröffentlichungen‘ nicht ‚Rechte in der SPD ausnutzen werden‘“.

In der Diskussion betonten Sitzungsteilnehmer, dass der Dialog mit der SPD natürlich nicht den „Klassenkampf in unserer Zeit verharmlosen“ dürfe. „Damit auch alle 2,3 Millionen SED-Mitglieder sich die richtige, also die Politbüro-Lesart des gemeinsamen Papiers mit der SPD aneigneten“, so Reißig, „wurde zusätzlich beschlossen, kurzfristig eine interne Parteiinformation zur ‚politisch-ideologischen Arbeit‘ mit dem ‚historischen Dokument‘ zu erarbeiten.“

Einmischung in die inneren Angelegenheiten der DDR

Für Reißig war damit „bereits erkennbar, was sich später bestätigen sollte“: Die SED-Führung hatte „Sinn und Motiv des Papiers und die mit ihm verbundene unverhoffte Chance nicht erfasst“. Honeckers Öffnung nach außen „blieb ohne innenpolitische Schlussfolgerungen, obwohl doch im Papier explizit vom Zusammenhang zwischen Außen- und Innendialog die Rede war“. Krenz beharrt, entgegen seinen damaligen Einlassungen, heute darauf: „Für uns war das Papier ‚kein innenpolitisches Dokument‘.“

Bereits wenige Wochen nach Veröffentlichung des Dialogpapiers zog sich die SED-Führung, aus „Angst vor der eigenen Courage“ (Reißig), auch offiziell wieder „auf alte Positionen des internationalen Klassenkampfes und des Schwarz-Weiß-Denkens“ zurück. SED-Chefideologe Hager sah sich in einer Grundsatzrede, die am 28. Oktober im „Neuen Deutschland“ abgedruckt wurde, veranlasst, das Papier in entscheidenden Punkten neu zu interpretieren und damit seine Grundlagen zu widerrufen.

„Unser Feindbild ist klar […]. Wir hören nicht auf, die aggressiven Kräfte des Imperialismus als Feinde, als Gegner des friedlichen Lebens der Menschheit zu bekämpfen.“ Und: „Es handelt sich darum, dass der Imperialismus friedensfähig gemacht werden muss, nicht, dass er von Natur aus friedfertig ist.“ Im Widerspruch zu den Aussagen des Papiers verurteilte er Kritik aus der Bundesrepublik an Menschenrechtsverletzungen in der DDR wieder als Einmischung in deren innere Angelegenheiten.

Hunderte Verhaftungen nach 1987

Der Widerruf des Dialogpapiers wurde von neuen Drangsalierungen der DDR-Opposition durch das SED-Regime begleitet. So wurden am 25. November 1987 die Räume der Umweltbibliothek in der Berliner Zionsgemeinde durchsucht, Materialien beschlagnahmt und Oppositionelle festgenommen.

Im Zusammenhang mit der Demonstration zum Gedenken an Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht wurden im Januar 1988 über einhundert Demonstranten und im Anschluss daran weitere Bürgerrechtler verhaftet und nach Protesten in die Bundesrepublik abgeschoben. Die Repression gegen andere Friedens-, Umwelt- und Menschenrechtsgruppen, Schikanen gegen Ausreisewillige häuften sich.

Die SPD sah in den Äußerungen Hagers einen Verstoß gegen das gemeinsame Papier und forderte eine „Klarstellung“ aus Ost-Berlin. Zwei Wochen später gab Otto Reinhold, der auf SED-Seite federführend an dem Dokument mitgewirkt hatte, ein Interview im Neuen Deutschland, darin verließ er die Position des gemeinsamen Papiers und bekräftigte Hagers Kernaussagen.

Abbrechen wollte die SPD die Gespräche nicht

Erhard Eppler widersprach den SED-Hardlinern. Die „Verkürzung auf das Thema Frieden“ werde dem Papier nicht gerecht, „Hauptthemen“ wie gegenseitige Anerkennung von „Friedensfähigkeit, Reformfähigkeit, Existenzberechtigung“ sowie der Aufruf zum „inneren Dialog innerhalb der Gesellschaften bei uns und dort“ fehlten in der SED-Auslegung. Eppler, um die Fortsetzung der Gespräche mit der SED bemüht, äußerte diplomatisch, dass sich die DDR-Führung offenbar „im Augenblick noch nicht in der Lage sieht, diesem Teil des Papiers voll gerecht zu werden“.

Abbrechen wollte die SPD die Gespräche nicht. Schließlich hätte sie ihre Möglichkeit, auf die SED einzuwirken, aufgegeben, womit sich auch die Lage der Opposition in der DDR weiter verschlechtert hätte. Am Ende war es ausgerechnet Erhard Eppler, der den Abbruch vollzog, als er in seiner Rede vor dem Bundestag am 17. Juni 1989, knapp fünf Monate vor dem Fall der Mauer, den Untergang des DDR-Regimes vorhersagte und die amtierende SED-Führung als Gesprächspartner abschrieb. „Was die Existenzberechtigung angeht“, sagte Eppler, wolle er an diesem Tag hinzufügen: „Keine Seite kann die andere daran hindern, sich selbst zugrunde zu richten.“

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