Eliten in der Politik: Volksvertreter – oder eine Gruppe, die unter sich bleibt?

Viele Politiker kommen aus der gleichen Bevölkerungsschicht. Diese Schieflage ist eine Gefahr für unsere Demokratie – die doch eigentlich repräsentativ sein soll.

Im Deutschen Bundestag
Im Deutschen BundestagPhilipp Znidar/dpa

Wissenschaftler schlagen Alarm. Die repräsentative Demokratie, eigentlich Garant für den demokratischen Ausgleich von Einzelinteressen zugunsten einer Politik für alle Bürgerinnen und Bürger, gerät zunehmend in Schieflage. Was ist geschehen? Unser Staatswesen funktioniert als parlamentarische Parteiendemokratie. Vom Volk werden in freier Wahl Vertreter gewählt, die das Volk im Bundestag repräsentieren, auch die Minderheiten.

Durch Repräsentation wird nicht nur der politische Prozess professionalisiert und effizient und strukturiert ermöglicht, auch die Qualität der politischen Entscheidungen – so die politikwissenschaftlichen Argumente – sei höher als bei Entscheidungen, die beispielsweise durch Volksabstimmungen herbeigeführt werden. Doch dieses schöne System wird zunehmend dysfunktional. Und das liegt daran, dass die „Auserwählten“, unsere Volksvertreter, inzwischen eher eine elitäre Gruppe bilden, dies sich zudem noch in Teilen aus sich selbst und ihresgleichen heraus reproduziert.

Der Soziologe Harald Welzer lässt sich im aktuellen Spiegel damit zitieren, dass die Hälfte der Bevölkerung (er meint die „kleinen Leute“) weder in der medialen Öffentlichkeit noch im Bundestag vertreten sei, sondern man sie nur noch als Paketboten wahrnimmt. „Das ist eine Gesellschaft, die nicht funktionieren kann“, so Welzer.

Der Elitenforscher Michael Hartmann hat kürzlich im Interview mit der Berliner Zeitung berichtet, dass das Spitzenpersonal in Deutschland weit überdurchschnittlich aus den „oberen Schichten“ kommt. „Fünfzig Prozent der Spitzenpolitiker stammen aus den oberen vier Prozent der Bevölkerung.“ Damit stellt sich schon die Frage, ob uns da eine abgehobene Clique regiert.

Auch Hartmann sieht die große Gefahr, dass der diagnostizierte überproportionale Einfluss von Eliten die Demokratie bereits aushöhlt – denn die Eliten haben andere Wahrnehmungen von der Welt, andere Prioritäten und können sich oft schwer in den normalen Alltag und die Nöte der einfachen Menschen hineinversetzen. Eine Lücke, die Populisten gern – verbal – füllen. Von Eliten gemachte Politik ist schon deshalb nicht im Interesse der gesamten Gesellschaft.

Harlad Welzer sieht die Bevölkerung im Bundestag nicht angemessen vertreten.
Harlad Welzer sieht die Bevölkerung im Bundestag nicht angemessen vertreten.Christoph Hardt/imago

Eine moderne Aristokratie?

Zu einem ganz ähnlichen Befund kommen auch die beiden schweizerischen Professoren Bruno S. Frey und Oliver Zimmer. Auch sie sprechen in ihrem soeben erschienen Buch „Mehr Demokratie wagen“ (Aufbau-Verlag) davon, dass repräsentative Demokratien in Europa Probleme haben, weil sie keine echte Teilhabe aller Menschen ermöglichen, sondern vielmehr wie moderne Aristokratien funktionieren, in denen dem ökonomischen und kulturellen Kapital – über das vor allem Eliten verfügen – ein zu großer Einfluss zukommt. Im Umkehrschluss sind Ärmere und weniger Gebildete von der politischen Macht weitgehend ausgeschlossen.

Auch lebensweltlich nehmen wir die Krise wahr – als eine gefühlte zunehmende Entfremdung. „Die da oben“ – das ist ein inzwischen sehr etabliertes Synonym für unsere Repräsentanten im Bundestag. Mit deren Themen und Entscheidungen kann ein „Otto Normalverbraucher“ anscheinend immer weniger anfangen. Einfache Leute halten das Auftreten von Politikern oft für abgehoben und weltfremd.

Schaut man sich nun einige veröffentlichte sozialstrukturelle Merkmale der Parlamentarier genauer an, so wird deutlich, dass diese das Volk tatsächlich nur sehr bedingt abbilden. Im Gegenteil – aus soziologischer Sicht sind die Parlamentarier eine recht homogene Gruppe, die sich sehr stark von der Normalbevölkerung unterscheidet.

Das Datenhandbuch des Bundestages macht deutlich: Der Bundestag ist nicht einmal annähernd ein guter Querschnitt der Bevölkerung! Schon beim flüchtigen Blick auf das grundlegendste strukturierende Merkmal, das Geschlecht, wird deutlich: Frauen werden von Männern „mitvertreten“. Im aktuellen Bundestag gibt es noch immer nur knapp 35 Prozent Frauen und 65 Prozent Männer. Diese Feststellung ist zwar ein alter Hut, das eigentlich Dramatische ist aber das Unvermögen, daran etwas zu ändern, und das, obwohl sich doch eigentlich alle seit vielen Jahren einig sind, dass etwas getan werden muss. Lediglich die Grünen und die Linke sind auf einem guten Weg, hier gibt es eine ausgewogene Geschlechterverteilung unter den Abgeordneten.

Negative Auswirkungen dürfte ein die Gesamtbevölkerung schlecht repräsentierender Bundestag auch im sozialen Bereich haben. Denn Menschen, die in höchst unterschiedlichen Lebenssituationen leben, haben sehr unterschiedliche Bedürfnisse und Anforderungen an die Gesellschaft und den Staat, also sehr verschiedene politische Interessen. Hier lohnt ein Blick auf Bildungszertifikate, Berufsabschlüsse und die ökonomische Situation der Abgeordneten.

Ob es vor allem Vertreter der besonders gut verdienenden Eliten ins Parlament schaffen, kann nicht so einfach mit den wenigen veröffentlichten Daten geklärt werden. Folgt man Michael Hartmann, spricht vieles dafür, dass es auf viele Abgeordnete durchaus zutrifft, dass sie nicht aus einfachen Verhältnissen stammen. Klar ist aber, dass Bundestagsmitglieder mit ihren Diäten spätestens bei Mandatsantritt sofort unter den oberen zehn Prozent der Einkommensbezieher, also in der Einkommenselite landen.

Und dies entfernt sie sehr zügig von den „Normalbürgern“, aber auch vom Mittelstand. Denn Abgeordnete mit Fahrdienst und kostenloser Bahncard100 sind lebensweltlich eben viel weniger von teuren Benzinpreisen betroffen als Gering- oder Normalverdiener. Auf derlei Sorgen einzugehen ist eher etwas für Wahlkampfzeiten, ansonsten eher lästig. Christian Lindner und Jens Spahn vermochten jedenfalls im Gegensatz zum Otto Normalbürger nichts Unsittliches darin zu sehen, dass sie sich Häuser für mehrere Millionen Euro kaufen, die für den allergrößten Teil der Bevölkerung sehr weit außerhalb der eigenen Möglichkeiten sind.

Finanzminister Christian Lindner
Finanzminister Christian LindnerPolitical-Moments/imago

Überdurchschnittlich viele Doktortitel

Auch beim Thema Schulabschluss und Ausbildung zeigt sich, dass der Deutsche Bundestag weit entfernt vom Durchschnitt ist. Gut neun von zehn Bundestagsabgeordneten haben Abitur (oder die Fachhochschulreife), während es im bundesdeutschen Durchschnitt nur jeder Dritte ist. Fast 87 Prozent der Abgeordneten haben eine abgeschlossene Hochschulausbildung – im Vergleich zu knapp 20 Prozent in der Gesamtbevölkerung.

Auch Doktortitel sind unter Politikern deutlich überdurchschnittlich vorhanden: bei 16 Prozent der Bundestagsabgeordneten, dagegen nur bei 1,2 Prozent aller Deutschen. Auf der anderen Seite der Skala gibt es dagegen nur ca. 6 Prozent Abgeordnete, deren höchster beruflicher Abschluss eine bestandene Lehre ist, am ehesten zu finden in der Partei Die Linke, in der SPD und in der AfD. Für etwa 50 Prozent der bundesdeutschen Bürger trifft aber genau das zu. Im Bundestag werden wir fast ausnahmslos von Akademikern vertreten – eine eklatante Verzerrung.

Wie sieht es in den verschiedenen Parteien aus? Vor allem die Grünen gelten weithin als besonders verkopft, während die Linke oder die SPD eher dem Arbeitermilieu zugerechnet werden. Die kurze Antwort lautet: Die Unterschiede zwischen den Parteien sind im Vergleich zu den großen Abständen zum deutschen Durchschnitt ausnehmend gering. Über ein Abitur oder Fachabitur verfügen in den Parteien zwischen 81,9 (AfD) und 98,3 Prozent (Grüne) der Abgeordneten.

Die Akademikerquoten (Fachhochschul- oder Hochschulabschluss) sind bei den Grünen, der FDP und der CDU/CSU mit jeweils circa 90 Prozent besonders hoch, während sie bei der SPD und der AfD gut 10 Prozent niedriger sind und bei etwas über 80 Prozent liegen. Die Linke ordnet sich irgendwo dazwischen ein. Deutlich wird: Einfache Hauptschüler und Menschen mit Lehrberuf schaffen es kaum mehr in den Bundestag! Ein Blick auf die historischen Daten früherer Legislaturen offenbart: Es gibt signifikante Tendenzen hin zu einer immer stärkeren, fast vollständigen Akademisierung der Abgeordneten.

Handwerker, Hausfrauen und Arbeiter sind seit geraumer Zeit eine aussterbende Spezies im Berliner Politikbetrieb. Wir werden vor allem von Juristen und Beamten regiert. Der Politikwissenschaftler Prof. Armin Schäfer aus Mainz forderte deshalb in der Bild-Zeitung kürzlich eine „Nicht-Akademiker-Quote“. Vielleicht wäre aber eine Revision der innerparteilichen Strukturen und Aufstiegsmechanismen eher sinnvoll, um einfachen Menschen eine Chance in die Politik zu eröffnen und so für eine ausgewogenere Interessenvertretung zu sorgen.

Eine Besonderheit der Bundestagsstatistik besteht darin, dass Abgeordnete ohne jeglichen formellen Abschluss in den Tabellen über die höchsten erreichten Ausbildungsabschlüsse in die Spalte „Anlernbildung/berufliches Praktikum“ sortiert werden. Besonders ist dies deshalb, weil eine solche Kategorie weder im Statistikamt noch in der Berufsforschung benutzt wird. Sei es drum, aber verstecken sich hier doch noch ein paar Abgeordnete, die aus einfachsten, bildungsfernen Verhältnissen stammen?

Eher nein, denn unter den elf abschlusslosen Abgeordneten befinden sich neben dem Generalsekretär der SPD Kevin Kühnert unter anderem beide Vorsitzenden der Grünen Ricarda Lang und Omid Nouripour, Staatsministerin Claudia Roth (Grüne), die Bundestagsvizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt (Grüne) sowie das ehemalige Mitglied der Bundesregierung, Staatssekretär Oliver Krischer (Grüne), der inzwischen als Minister nach NRW wechselte.

Blick in die Kuppel des Deutschen Bundestages
Blick in die Kuppel des Deutschen BundestagesIngo Schulz/imago

Gefährdung der Demokratie

Also alles Berufspolitiker mit beeindruckenden Parteikarrieren und eben nicht gerade Vertreter der circa 16 Prozent Deutschen über 15 Jahre, die ohne jeglichen Abschluss in der „normalen“ Arbeitswelt kaum eine Chance auf ähnlich gut bezahlte Jobs haben. Der ehemalige CDU-Generalsekretär Paul Ziemiak hat ebenfalls keinen Abschluss. Er muss allerdings in seiner Meldung zur Statistik des Bundestages etwas anderes angegeben haben, da hier alle CDU-Abgeordneten offiziell einen Abschluss vorweisen können.

Was sagt diese statistische Betrachtung unseres Parlamentes aus? Zunächst: Offenbar werden wir im Bundestag von besonders klugen Abgeordneten vertreten. Dies gilt für alle Parteien gleichermaßen. Sollten wir uns darüber nicht freuen? Natürlich spricht viel für besonders qualifizierte Abgeordnete. Wenn aber eine strukturelle und systematische Schieflage entsteht und große Teile der Gesellschaft nicht repräsentiert werden, gefährdet dies einige grundlegende Prinzipien der Demokratie.

Und dies scheint der Fall, denn eine Gruppe fast ausschließlich akademisch ausgebildeter, sehr gut verdienender, meist aus der Oberschicht stammender Abgeordneter, die zudem noch weit überdurchschnittlich oft aus Männern besteht, regiert ein Volk, dessen Einkommen im Durchschnitt nur 40 Prozent das der Abgeordneten erreicht, dessen Wahrscheinlichkeit, ein Abitur zu haben, um zwei Drittel geringer ist als die eines Bundestagsabgeordneten und das mehrheitlich keinen Hochschul-, sondern einen Lehrberufsabschluss hat. Ob so eine wirkliche Vertretung der Interessen aller gewährleistet werden kann, ist fraglich.

Anders sieht es aus, wenn es um besonders herausgehobene und anspruchsvolle Positionen wie Ministerposten oder hohe Parteiämter geht. Dass diese mit besonders gut ausgebildetem Personal besetzt werden sollen, wünschen sich die Menschen nach repräsentativen Umfragen mehrheitlich. Wenn aber gerade hier Berufs- oder Hochschulabschlüsse und Berufserfahrungen eine untergeordnete Rolle spielen, trägt dies zur Wahrnehmung der abgehobenen Politikerkaste bei, die sich selbst mit Privilegien ausstattet.

Abschlüsse und Erfahrung sind sonst überall auf dem freien Arbeitsmarkt als Eintrittskarte unerlässlich. Und besonders auch im öffentlichen Dienst entscheidet der formale Abschluss direkt über die Lohngruppe. Berufspolitiker scheinen sich diesen Widrigkeiten der normalen Welt, zumindest aber des normalen Arbeitsmarktes, nicht aussetzen zu wollen. Moderne Aristokraten eben.

Denis Huschka ist promovierter Soziologe und arbeitet als freier Autor und Strategieberater. Er hat als Geschäftsführer zweier Sachverständigenräte der Bundesregierung die Sphären der Wissenschaft und Politik verknüpft.

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