Fachkräftemangel: Ohne Anwerbeabkommen wird es nicht gehen

In den nächsten Jahrzehnten werden in Deutschland viele Fachkräfte fehlen. Unser Autor meint: Wir brauchen gegen den Mangel endlich Anwerbeabkommen!

Um die deutsche Industrie und Wirtschaft anzukurbeln, braucht es Fachkräfte.
Um die deutsche Industrie und Wirtschaft anzukurbeln, braucht es Fachkräfte.Westend61/imago

Die viel beachtete Studie der Boston Consulting Group (BCG) zum Fachkräftemangel in Deutschland beziffert den aktuellen wirtschaftlichen Schaden für Deutschland auf mehr als 80 Milliarden Euro jährlich. Harnoss, einer der Autoren, schlägt daher vor, dass Deutschland Arbeitskräfte gezielt in Ländern anwirbt, deren Bevölkerung wächst. Eine kohärente Anwerbestrategie ist bisher aber weder aus dem Strategiepapier der Bundesregierung noch dem Eckpunktepapier abzuleiten. Dies müsse man noch gemeinsam mit der Wirtschaft ausarbeiten, wie Arbeitsminister Hubertus Heil zugibt. Erst danach soll es gezielte Aktionen in bestimmten Ländern geben, um weltweit für Deutschland zu werben.

Werben bedeutet „jemanden für eine Sache, für jemanden, für sich zu gewinnen suchen“. An Fachkräften, die nach Deutschland und insbesondere nach Berlin kommen wollen, dürfte es indes nicht fehlen, denn beide landen beim weltweiten Ranking auf Platz vier. Berlin verlor damit zwar einen Platz gegenüber der vorherigen Erhebung, konnte aber vor allem bei Arbeitnehmern mit Masterabschluss oder Promotion punkten und schafft es dort sogar auf Platz zwei.

Bei dieser Studie ging es darum, die Bereitschaft zu messen, in bestimmten Ländern und Städten zu arbeiten und so auch deren Ansehen zu ermitteln. Soll es aber, wie die Bundesregierung vorhaben dürfte, darum gehen, jemanden durch Werbung für ein neues Arbeitsverhältnis oder Dienstverhältnis zu gewinnen, wäre das Verb „anwerben“ eindeutig die bessere Wortwahl. Es geht hier nicht um Wortklauberei. Will es die Bundesregierung nur versuchen oder hat sie wirklich vor, in den nächsten Jahren Millionen von Arbeitskräften zu uns zu holen. Die jüngste Debatte im Bundestag lässt einiges erahnen, von einer klaren Strategie ist man aber noch weit entfernt.

Fähige Arbeitskräfte werden in den verschiedensten Branchen benötigt.
Fähige Arbeitskräfte werden in den verschiedensten Branchen benötigt.Westend61/imago

Bei der Beratung im Bundestag am 20. Januar 2023 zu der neuen Fachkräftestrategie der Bundesregierung waren sich alle Parteien dem Ernst der Lage durchaus bewusst. Marc Biadacz, der erste Redner der CDU/CSU-Fraktion, bezeichnete es daher als „Fach- und Arbeitskräftekrise, die unsere Wirtschaft und Gesellschaft lähmt“. Es sei schon immer klar gewesen, „dass Deutschland in Zukunft nur dann stark sein kann, wenn die fleißigsten Hände und die klügsten Köpfe zu uns kommen.“

Sogar der AfD kann hier ein Problembewusstsein attestiert werden, wenn man René Springer zuhört. Die Lösung sieht er aber nicht in der Zuwanderung, sondern im Verhindern von Abwanderung.  Mit „Kinder statt Inder“ wird das Problem aber nicht einmal nach Ansicht der AfD zu lösen sein, weshalb noch „Technisierung statt Zuwanderung, Maschinen statt Migration“ skandiert wurde.

Von nur einer Maschine hingegen sprach Dr. Lukas Köhler (FDP), als er die Fachkräftepolitik als solche bezeichnete. Es gäbe ganz viele Schrauben – große Schrauben, kleine Schrauben –, an denen man drehen könne, man müsse an allen Schrauben drehen, um des Problems, das wir heute haben, Herr zu werden. Für Misbah Khan (Bündnis 90/Die Grünen) dürfte es hingegen nicht genügen, nur zu justieren. Sie will ein ganz neues Mindset. Man müsse endlich verstehen, dass wir uns um ausländische Arbeitskräfte zu bemühen haben.

Westbalkanregelung als Vorbild

Die bisherige Strategie der Bundesregierung lässt sich vereinfacht wie folgt darstellen: die Potenziale in Deutschland voll ausschöpfen und zusätzlich die Einwanderung von ausländischen Fachkräften erleichtern. Über die Hausaufgaben der Politik im Inland wird seit Jahren debattiert, worauf es hier aber nicht entscheidend ankommt, wie Hakan Demir (SPD) treffend formulierte: „Aber ich sage auch ganz klar: Selbst wenn wir es morgen schaffen würden, dass alle Arbeitslosen sofort einen Job finden, selbst wenn wir es schaffen würden, dass die Erwerbsbeteiligung von Frauen steigt, selbst wenn wir es schaffen würden, dass keine Schülerin und kein Schüler die Schule ohne Abschluss verlässt, fehlen bis 2035 immer noch 7 Millionen Menschen auf dem Arbeitsmarkt.“

Hakan Demir, Abgeordneter der SPD im Deutschen Bundestag
Hakan Demir, Abgeordneter der SPD im Deutschen BundestagMarkus Wächter/Berliner Zeitung

Nur für einen kleinen Teil dieser Menschen hatte Herr Demir eine genaue Herkunftsadresse anzubieten, die auch von Dr. Ann-Veruschka Jurisch (FDP) benannt wurde: „Die Westbalkanregelung ist zum Beispiel ein hocherfolgreiches Instrument. Das sollten wir unbedingt auf weitere Länder ausweiten.“ Die Westbalkanregelung eröffnet Staatsangehörigen von Albanien, Bosnien und Herzegowina, Kosovo, der Republik Nordmazedonien, Montenegro und Serbien für jede Beschäftigung einen Zugang zum Arbeitsmarkt in Deutschland, was sich bisher bewährt hat. Diese wird deshalb schon seit langem von Experten als Blaupause für Abkommen mit weiteren Ländern gesehen. Genau das ist es auch, was sich 57 Prozent der Arbeitgeber, die sich im Ausland nach Fachkräften umschauen, konkret wünschen: mehr Vereinbarungen zwischen Deutschland und anderen Staaten zur Vermittlung von ausgebildeten Fachkräften.

Deutschland steht nicht zum ersten Mal vor einer derartigen Herausforderung. Zwischen 1955 und 1972 hatte man es geschafft, doppelt so viele Arbeitskräfte wie den aktuellen Bedarf von 7 Millionen, nämlich 14 Millionen, erfolgreich anzuwerben. In dieser Zeit nahm die Bundesrepublik mehr Zuwanderer auf als die klassischen Einwanderungsländer USA und Kanada zusammen. Die damals abgeschlossenen Anwerbeabkommen mit Ländern wie der Türkei waren aus der Not heraus geboren und sehr kurzsichtig angelegt, weshalb elf der vierzehn Millionen wieder in ihre Heimatländer zurückkehrten.

Der Bedarf war damals so groß geworden, dass immer mehr Arbeitgeber auf eigene Faust Arbeitskräfte nach Deutschland holten. Das Anwerbeabkommen sollte diese „illegale“ Arbeitskräftezuwanderung kontrollieren. Vor ähnlichen Problemen stehen wir auch heute. Mangels entsprechender Abkommen mit Drittländern und legalen Einreisemöglichkeiten sehen sich viele gezwungen, zunächst illegal nach Deutschland einzureisen, um dann um Asyl zu bitten. Hierfür geben sie Tausende von Dollar an zwielichtige Agenturen aus und nehmen auch oft langwierige Tortouren auf sich, wie oft von Migranten aus Afrika berichtet wird.

Deutschland muss für Arbeitskräfte aus dem Ausland lukrativer werden.
Deutschland muss für Arbeitskräfte aus dem Ausland lukrativer werden.Daniel Ingold/imago

Genau hierdurch werden Zuwanderung durch Asyl und Zuwanderung von Fachkräften oder Arbeitskräften in den Arbeitsmarkt vermengt, was zu erheblichen Problemen führt und dem Image von Zuwanderung in der Bevölkerung schadet. Einen Asylbewerber darf man sich nicht aussuchen, einen Arbeitsmigranten aber schon. Wenn wir die „fleißigsten Hände und die klügsten Köpfe“ wollen, müssen wir das auch. Hierin liegt auch die Lösung bei der Verhinderung von Abschiebung ausreisepflichtiger Migranten. Diese scheitern in den allermeisten Fällen an der mühseligen Passbeschaffung, die von Botschaften der Heimatländer nur widerwillig betrieben wird, wie von Mitarbeitern der Ausländerbehörden berichtet wird.

Lösung: Abkommen mit Herkunftsländern

Absprachen und Abkommen mit den Herkunftsländern sind also auch hier die Lösung. Bilaterale Abkommen können neben der illegalen Einwanderung auch den Bedarf an kommerziellen Arbeitsvermittlern verringern. Denn schon jetzt tummeln sich zahlreiche findige Vermittler auf dem Gebiet, darunter auch deutsche Anwälte, die sich im Dschungel der Paragrafen und der Bürokratie bestens auskennen und sich ihre Dienste fürstlich entlohnen lassen.

Im Strategiepapier der Bundesregierung tauchen zahlreiche Akteure auf, mit denen man zusammenarbeiten will. Die Bundesagentur für Arbeit, die DIHK/Auslandshandelskammern, das Goethe-Institut, Zentren für Migration und Entwicklung des BMZ und noch einige weitere. Was fehlt, ist aber eine zentrale Anlaufstelle in den betreffenden Ländern. Hier war man in der Vergangenheit schon weiter, wie in der Sonderausstellung zum Anwerbeabkommen mit der Türkei auf der Homepage des Ministeriums für Integration von Rheinland-Pfalz zu lesen ist:

„Zuvor mußte man einen strengen Auswahlprozess bestehen: Jeder Mann und jede Frau wurde auf seine, bzw. ihre fachliche und gesundheitliche Eignung geprüft. Hierzu hatte man die so genannte ‚Deutsche Verbindungsstelle‘ im Istanbuler Stadtteil Tophane am europäischen Ufer des Bosporus eingerichtet. Zusammen mit der Außenstelle in Ankara bildete sie die zentrale Durchgangsstation für die diejenigen, die sich im Rahmen des Anwerbeabkommens auf eine Arbeitsstelle in Deutschland bewarben. […] Innerhalb der zwölfjährigen, türkischen Anwerbephase von 1961 bis 1973 bewarben sich 2,6 Millionen Menschen um einen Arbeitsplatz in Deutschland, wovon nur jeder Vierte genommen wurde.“

Da wir heute klüger sind als vor 60 Jahren und wissen, dass die Sprache der Schlüssel für eine erfolgreiche Integration ist, sollten wir Bewerbern niedrigschwellige Angebote machen, Deutsch zu lernen. Hierfür bietet das Internet Möglichkeiten, die wir nutzen und ausbauen müssen. Wir müssen mit den vorhandenen Institutionen der Länder zusammenarbeiten und Bewerbern zudem auch Qualifizierungsmöglichkeiten vor Ort anbieten. Von hier aus wird das alles nicht gehen. Wir müssen vor Ort sein und dürfen das Feld nicht privaten Initiativen überlassen.

Adem Türkel ist Wirtschaftsjurist und Politikwissenschaftler. Er war einige Jahre selbstständiger Handwerker und kennt den Fachkräftemangel aus eigener Erfahrung. Er arbeitet mit geflüchteten Azubis und kümmert sich auch um deren Aufenthaltsstatus.

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