„Der Himmel über Hanau“: Der Anschlag darf nicht vergessen werden
Im Jahr 2020 ermordete ein Amokschütze neun junge Menschen in Hanau. Unser Autor kommt selbst aus Hanau und hat zu dem Thema einen Film gedreht.

Vor drei Jahren tötete ein Amokschütze neun junge Menschen aus migrantischen Familien im hessischen Hanau. Der Filmemacher Dirk Schäfer, aufgewachsen in der Nähe der Stadt, wurde gebeten, einen fünftägigen Workshop vor Ort zu realisieren. Dabei sollte ein Video entstehen, das die aktuell in der Stadt vorherrschenden Perspektiven auf das Hassverbrechen dokumentiert. Er sagte zu und schrieb die Eindrücke dieser besonderen Erfahrung auf.
Mein Verhältnis zu Hanau ist zwiespältig. Es ist die Stadt, in der ich viele Jahre zur Schule ging und mein Abitur machte. Als junger Mensch, der von einem souveränen Leben als Künstler träumte, wünschte ich mich damals weit weg aus Hanau, das mir fade und freudlos erschien. Waren doch die kurzen Ausflüge in den an unser Gymnasium grenzenden Park, der ursprünglich ein Lustgarten des im Zweiten Weltkrieg zerstörten Stadtschlosses war, seltene Lichtblicke. Um sich während der Schulpausen unter hohen alten Bäumen herumtreiben zu dürfen, mussten wir allerdings eine schriftliche Einwilligung der Eltern beibringen. Die bekam ich!
Nun waren Jahrzehnte vergangen, und ich würde in der Rolle des Lehrenden nach Hanau zurückkehren. Zwar lediglich für einen fünftägigen Videokurs, dafür aber mit hohen Erwartungen an mich selbst. Schließlich hatte ich unmittelbar nach der Schulzeit die hessische Provinz verlassen, um mein Leben als Filmemacher zu verwirklichen – in Metropolen wie Berlin, Istanbul und Paris. Das im Vergleich zu diesen Städten belanglos erscheinende Hanau geriet jäh, in der Nacht vom 19. Februar 2020, weltweit in die Schlagzeilen: Ein 43-jähriger Rechtsextremist tötete neun junge Menschen aus migrantischen Familien, die in seinen Augen nicht hierhergehörten.
Hanau, das mit mehr als 100.000 Einwohnern offiziell als Großstadt gilt, war in seiner 800-jährigen Geschichte ursprünglich überhaupt nicht belanglos und ist vor allem als Wiege deutscher Goldschmiedekunst und Geburtsort der Gebrüder Grimm bekannt. Aber Hanau gehörte auch zu jenen Städten, die im Zweiten Weltkrieg besonders zerstört wurden. Etwa 1200 Bomben ließen innerhalb von 17 Minuten durch einen Luftangriff der Royal Air Force in den Morgenstunden des 19. März 1945 die Innenstadt in einem Feuersturm untergehen.
Eines der wenigen Areale, das von den Bomben verschont blieb, ist die 1894 erbaute Ulanen-Kaserne, deren Backsteingebäude fein restauriert wurden. Eines davon beherbergt die Volkshochschule Hanau, die mich für den geplanten Workshop angefragt hatte. Für diesen Kurs, der unter der Kategorie „Bildungsurlaub“ veranstaltet wird, hatten sich fünf Personen angemeldet, die sich nun, der Reihe nach, an einem Montagmorgen einfinden: Studentin Natalia, Medienpädagoge Simeon, Jugendreferent Eren, Erzieher Mesut und Theaterregisseur Kosmas.
Zusammen mit meinem Assistenten, dem jungen Filmemacher Nur Muhammed aus Frankfurt, sind wir also tapfere SIEBEN – eine Zahl, deren magische Kraft uns auch aus den Grimm’schen Märchen vertraut ist. Und Magie können wir gebrauchen, denn wir wollen in wenigen Tagen ein Video realisieren, das die heutige Sicht der Hanauer Bevölkerung auf den drei Jahre zurückliegenden mörderischen Anschlag widerspiegelt.

Die Dreharbeiten
Nun stehe ich also da, in einem Raum der Hanauer Volkshochschule, und projiziere Filmausschnitte auf ein dafür vorgesehenes weißes Bord. Zwei Elemente des filmischen Handwerks hebe ich dabei besonders hervor: das Erzählen in langen, ungeschnittenen Kameraeinstellungen, sogenannter Plansequenzen, wie in „Athena“ von Romain Gavras und „Der wilde Birnbaum“ von Nuri Bilge Ceylan. Einen zweiten Fokus lege ich auf die einfühlsame Arbeit mit dem Originalton. Hierzu habe ich Ausschnitte aus einer Dokumentation vorbereitet, die ich selbst in einer Stadt nahe der türkisch-syrischen Grenze gedreht habe.
Mardin, vor etwa 3000 Jahren auf einem Felsplateau erbaut, rühmt sich seiner an Merkwürdigkeiten reichen Geschichte, zu der auch die einzigartige Kultur einer urchristlichen Gemeinde von Arabisch sprechenden Assyrern gehört. Dort entstand 2009 meine erste Auftragsproduktion für den deutsch-französischen Kultursender Arte, den man getrost als Olymp der europäischen Fernsehlandschaft bezeichnen darf.
Zu Beginn dieser Zusammenarbeit ahnte ich allerdings nicht, wie sehr meine Redakteurin einen erklärenden Kommentar favorisieren und somit dem von mir selbst akribisch geangelten Originalton den Garaus machen würde – auch wenn die sagenhafte Stimme von Eva Mattes, die als Sprecherin für den Kommentar gewonnen werden konnte, den Kompromiss etwas abmilderte.
Immerhin war ich autorisiert, parallel eine längere Version für das Istanbuler Filmfestival zu gestalten, in der sich Plansequenzen und O-Töne ungehemmt entfalten durften. Meinen fünf Eleven in Hanau führe ich nun dieselbe Sequenz aus beiden Fassungen vor, mal mit und mal ohne Evas Stimme. Und siehe und höre da: Die Augen führen uns in die Welt hinaus – und die Ohren führen die Welt in uns hinein. Mit dem Gefühl, die Gruppe für unser Vorhaben gewonnen zu haben, gehen wir weiter ans Werk und legen individuelle Aufgaben fest.
Natalia und Simeon werden auserkoren, vor der Kamera als Protagonisten zu agieren. Eren und Mesut sollen das Geschehen mit ihren iPhones filmen, während ich selbst die Aufnahme des Originaltons übernehme. Und mein Assistent Nur Muhammed wird seine helfenden Hände überall dorthin ausstrecken, wo sie zum Gelingen des Films gebraucht werden. Lediglich für einen der Teilnehmer wurde noch keine eindeutige Aufgabe gefunden: Kosmas, der durch eine Gehbehinderung eingeschränkt ist, traut sich die physisch anstrengenden Dreharbeiten nicht zu. Ich werde mir für ihn noch etwas Besonderes einfallen lassen müssen.
Zu Beginn des zweiten Tages steht auch der dramaturgische Gravitationspunkt unseres Films noch nicht fest. Ich hatte lediglich den ersten Drehort vorgeschlagen: ein in Hanau bekanntes Graffiti, das Freunde der Ermordeten gleich nach dem Anschlag neben einem kleinen Spielplatz in der marginal erhaltenen Altstadt gesprüht hatten. Es zeigt lediglich die Namen der Toten, verteilt auf einer etwa vier Meter hohen und mehr als 15 Meter breiten schwarzen Wand. Dieses Graffiti blieb so gut wie unverändert und ist quasi das erste inoffizielle Mahnmal der Stadt.
Am zweiten Drehort, der grandiosen, neu eröffneten Stadtbücherei im sogenannten Kulturforum am Freiheitsplatz, stellt Natalia plötzlich die Frage, was eigentlich aus dem Mahnmal geworden sei, das im Zentrum der Stadt gebaut werden sollte? Ab diesem Moment entfaltet sich ein Spannungsbogen, der uns die nächsten Tage begleiten und vielleicht noch Erstaunliches zutage fördern wird.
Die damit verbundene, unter uns aufkeimende Euphorie will ich mit einem kuriosen Einfall untermauern. Indem ich die ersten zwei Anfangsbuchstaben unserer Vornamen spielerisch aneinanderreihe, taufe ich unsere Gruppe auf den Namen „Filmkooperative Nadime Mukosier“. Und auch Kosmas, dessen tiefe Stimme uns von Beginn an unter die Haut ging, hat seine Aufgabe gefunden: Er schreibt einen philosophischen Text für den Anfang und das Ende des Films, den wir dann mit ihm als Erzähler aufnehmen werden.

Recherche zu Gedenkstätten
Alles fügt sich nun und passt zusammen, jeder und jede Einzelne wächst ein wenig über sich hinaus. Nur einmal kommt es, in einer Drehpause, zwischen uns zu einem Disput. Ich hatte das Phänomen der Xenophobie, also der Angst vor dem Fremden, als Fenster in die abstruse und bizarre Gedankenwelt eines rassistisch handelnden Menschen öffnen wollen. Sofort entspinnt sich ein Streit darüber, ob dieser Versuch einer Annäherung Rassismus letztlich verharmlost?! Eine klare Antwort bleiben wir uns schuldig.
Natalia und Simeon recherchieren weiter und besichtigen alle bislang existierenden Gedenkstätten des Anschlags. An beiden Tatorten hatten Angehörige der Ermordeten provisorische Mahnmale errichtet, und auch die Stadt installierte jeweils eine karg anmutende Gedenktafel. Ganz anders der Entwurf des Künstlers Heiko Hünnerkopf, der bereits im letzten Jahr von den Familien der Opfer unter knapp 120 Einreichungen als Gewinner für das geplante, etwa fünf Meter hohe Mahnmal ausgewählt wurde.
Doch der gewünschte, sehr prominente Standort auf dem geschichtsträchtigen Marktplatz im Zentrum der vom Krieg einst so schonungslos zerbombten Stadt wurde für den seit 2003 amtierenden Bürgermeister Claus Kaminsky von der SPD zum Menetekel. Denn die Hanauer Bürgerinnen und Bürger sind sich diesbezüglich leidenschaftlich uneins.
Während Mesut und ich an einem ersten Rohschnitt des bislang gedrehten Materials arbeiten, dreht der Rest des Teams auf den Straßen Hanaus Aussagen von Frauen und Männern zum schwelenden Konflikt. Junge und ältere Menschen, migrantisch oder nicht, kommen zu Wort. Letztere sprechen sich im Wesentlichen gegen den Marktplatz als Standort des Mahnmals aus. Ist es die Besorgnis, den Ort, wo ein Hauch des alten, idealisierten Hanaus wiederbelebt wurde, erneut zu verlieren?
Am späten Nachmittag gesellt sich Sedar zu uns, ein türkischstämmiger Jugendlicher, der über einen Freund auf das Filmprojekt aufmerksam wurde und mit seiner Kameradrohne einen Beitrag leisten will. Als Sedar nun tatsächlich seine geliebte Drohne im wahrsten Sinne des Wortes mit Fingerspitzengefühl in den Himmel über Hanau fliegen lässt, zeigt der sich von schweren, düsteren Wolken verhangen. Doch dieses Grau in Grau ist uns gerade recht!

Schließlich naht der Höhepunkt unserer Dreharbeiten: ein Gespräch mit Serpil Unvar, der Mutter eines der neun Ermordeten. Ferhat Unvar war 23 Jahre alt, als er sein Leben aufgrund der erlittenen Schussverletzungen hingeben musste. „Ich brenne!“, sollen seine letzten Worte gewesen sein. Die türkeistämmige Mutter, durch ihre kurdische Familiengeschichte per se politisiert, wandelte den Schmerz und die Trauer in eine andere Art unermüdlichen Brennens um, das ihr Kraft für ein ehrgeiziges Ziel gibt: Sie gründete eine Bildungsinitiative, benannt nach ihrem Sohn.
In den Räumen dieser Initiative sitzt sie nun Natalia und Simeon gegenüber, ganz in sich selbst ruhend, und sagt, dass sie sich häufig mit ihrem Sohn wegen der Schule gestritten habe. Vor allem, wenn er sich gegen die Diskriminierungen seitens seiner Lehrer aufbäumte. Sie selbst sei als „Gastarbeiterin“ viel eher bereit gewesen, rassistisches Verhalten zu erdulden und hatte das auch von ihrem Sohn gefordert.
Das wirft sie sich heute als Fehler vor. Und sie bekräftigt die Wahrnehmung und Erkenntnis der Angehörigen aller Opfer: Ihre Kinder gehörten nun nicht mehr nur ihnen alleine, sie seien Teil der Geschichte Hanaus und der Geschichte Deutschlands. Und gerechterweise habe nur der Marktplatz, auf dem seit 127 Jahren die imposante, sechs Meter hohe Bronzestatue der in Hanau geborenen Brüder Grimm steht, eine adäquate Bedeutung als Standort für das Mahnmal. Jeder andere Platz wäre ein Kompromiss.

Am fünften Tag unseres Workshops versammelt sich die Filmkooperative Nadime Mukosier ein letztes Mal in dem für uns reservierten Raum der Volkshochschule. Die von mir nachts vorbereitete erste Schnittfassung stimmt uns glücklich und zufrieden. Wir vereinbaren, uns bald noch einmal zu treffen, um letzte Korrekturen daran vorzunehmen.
Als ich abends aus der Stadt hinausfahre, werde ich nachdenklich. Obwohl hier Menschen aus 140 Nationen leben, ist Hanau sicher mit Metropolen wie den von mir so geliebten Städten Berlin, Istanbul oder Paris nicht zu vergleichen. Aber was es heißt, als Schicksalsgemeinschaft einem unverzeihlichen Hassverbrechen die Stirn zu bieten, kann es hoffentlich wegweisend vor den Augen der Welt zum Ausdruck bringen. Ich traue Hanau heute jedenfalls sehr viel mehr zu, als ich es in meiner Jugend für möglich gehalten hätte.
Übrigens haben wir unserem Video, in Anlehnung an ein poetisches Meisterwerk der deutschen Filmgeschichte von Wim Wenders, den Titel „Der Himmel über Hanau“ gegeben. Nicht zuletzt, weil der Himmel – frei von fragwürdigen Gräben und Grenzen – uns alle zugleich überspannt. Auch wenn er mal wieder ohne Unterlass dunkelgraue, düstere Wolken vor sich auftürmt.
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