Freiwillige am Hauptbahnhof: „Ihr seid die einzigen Menschen, die ich habe“

Hunderte Berliner helfen, Flüchtlinge aus der Ukraine in Empfang zu nehmen. Unsere Autorin ist eine von ihnen. Sie beschreibt die Sorgen und Tränen einer Nacht.

Freiwillige Helfer versorgen Flüchtlinge am Berliner Hauptbahnhof.
Freiwillige Helfer versorgen Flüchtlinge am Berliner Hauptbahnhof.Benjamin Pritzkuleit

Wir stehen im Berliner Hauptbahnhof an der Treppe zu Gleis 14 und warten. Viele Freiwillige tragen gelbe Warnwesten, etwa jede und jeder Fünfte eine orangefarbene. Orange heißt: Ich spreche Russisch oder Ukrainisch. Gelb heißt: Ich nicht. Ich trage eine gelbe Weste.

Der Zug aus Warschau soll um 22.16 Uhr ankommen. Ich checke die Deutsche-Bahn-App, neben der Ankunftszeit leuchten rote Zahlen – Verspätung. Bei jedem Aktualisieren verändern sie sich: 22.53 Uhr, 23.11 Uhr, 23.42 Uhr. Die Zeit vergeht, wir warten. 800 Flüchtende werden mit diesem Zug erwartet. In den ersten Tagen kamen vor allem Menschen aus dem Westen der Ukraine. Irgendwann fährt der Zug ein, kurz darauf ist die Treppe voller Menschen. Alte Mütterchen an Gehstöcken, Mamas mit Kindern an der Hand und auf dem Arm, Hunde in Boxen, Katzen in Handtücher gewickelt. Die meisten haben wenig Gepäck, einen kleinen Koffer und vielleicht einen Rucksack.

Kennst du diesen Typen? Sie zuckt mit den Schultern

Dann kommt eine junge Frau auf mich zu. Sie ist etwa Anfang 20, mit blauen und weißen Dreadlocks, Glitzer im Gesicht und einem Smartphone in der Hand. Sie spricht weder Englisch noch Deutsch, also kommunizieren wir per Google-Übersetzer. Sie möchte zur U-Bahn-Station Blissestraße, zu einem Freund. Ich suche die nächste Verbindung und deute auf Gleis 16. Bevor sie geht, öffnet sie einen Chat auf Instagram und gleicht noch mal die Namen der Haltestellen ab. Der Chat ist komplett auf Deutsch.

Beim Überfliegen lese ich Sätze wie: „Wir können uns nicht bei mir zu Hause treffen wegen meiner Mutter.“ Ich werde stutzig. „Kennst du diesen Typen?“, frage ich. Sie zuckt mit den Schultern. Eilig tippe ich in den Übersetzer: „Es gab die letzten Tage Probleme mit Männern, die junge Frauen mitnehmen. Wenn du ihn nicht kennst, rate ich dir, hierzubleiben. Wir haben warmes Essen und können eine Unterkunft für dich finden.“ Ihr Gesichtsausdruck verändert sich, wird ängstlich. „Das wusste ich nicht“, tippt sie, „ich bleibe.“

Erleichtert atme ich auf. Ich möchte den Chat noch mal sehen, möchte wissen, wer dieser fremde Mann ist, der eine junge Frau auf der Flucht mitten in der Nacht nicht abholt, sondern zu U-Bahn-Stationen in fremden Städten lockt. Doch als ich sie danach frage, schüttelt sie den Kopf und greift nach ihrem Gepäck. Sie sagt ein paar hektische Sätze auf Russisch, die ich nicht verstehe, dann dreht sie sich um und läuft mit schnellen Schritten davon. Panik flammt in mir auf, sie könnte es sich doch anders überlegt haben.

Zum Glück entdecke ich nur wenige Meter entfernt zwei Freiwillige in orangefarbenen Westen. Ich erkläre ihnen in drei hastigen Sätzen die Situation und deute mit dem Zeigefinger der Frau hinterher, die gerade am Ende der Halle die Treppe erreicht hat. Ebenfalls alarmiert stürmen die beiden ihr hinterher und ich bete, dass sie die Situation klären können. Ich würde den Rest des Abends Ausschau nach blau-weißen Dreadlocks halten, sie aber nicht noch mal sehen.

Ein paar Minuten später begleite ich eine Mutter und ihre fast erwachsene Tochter. Ich frage, ob sie Hunger haben oder etwas anderes brauchen. Eine Raucherpause, übersetzt die Tochter die Worte ihrer Mama. Ich grinse und wir steuern auf den Ausgang des Bahnhofs zu. Kaum an der frischen Luft, zückt die Mutter Feuerzeug und Zigarettenschachtel. Ich zeige auf ein Schild mit einer durchgestrichenen Zigarette: kein Raucherbahnhof. „It's Germany. Many rules.“ Wir lachen und laufen noch ein Stück weiter. Masken ab, Zigarette an.

Die beiden möchten nach Bielefeld. Mein Deutsche-Bahn-Navigator teilt mir mit, dass der letzte Zug für diesen Tag in drei Minuten abfährt. „Jetzt rennen oder fünf Stunden warten“, sage ich zur Tochter. Sie übersetzt, ihre Mama lässt ihre Kippe fallen, und wir sprinten zurück in den Bahnhof. Als wir das Gleis erreichen, fährt der Zug gerade ein. Die Tochter fällt mir zum Abschied in die Arme und bedankt sich überschwänglich. Dann nimmt sie ihre Mutter an die Hand und die beiden steigen ein.

Im Untergeschoss des Bahnhofsgebäudes werden die Menschen mit Medizin, Essen und Informationen versorgt. Ich spreche eine ältere Frau an, die alleine in der Menge steht. Sie antwortet auf Russisch, ich wiederum auf Englisch, sie erneut auf Russisch. Wir verstehen uns nicht, aber wir mögen uns. „Portugal“ schnappe ich irgendwann auf. Auf mein Winken hin stößt ein Mädchen in orangener Weste zu uns und bricht die Sprachbarriere.

Ich will doch nur zurück, sagt die Frau aus Charkiw

Ich erfahre, dass die ältere Dame tatsächlich nach Portugal möchte, zu einem Neffen an die Algarve. Während wir versuchen, einen Weg für sie in den Süden zu finden, fängt sie an zu erzählen. Sie habe die Ukraine noch nie in ihrem Leben verlassen, ihr Reisepass habe bis vor wenigen Tagen unbenutzt in einer Schublade gelegen. Sie sei aus Charkiw, und dort sei es wunderschön, die Stadt und die Natur und alles. Sie klingt fast stolz, als sie es sagt – stolz und unbeschreiblich traurig.

Hätte der Bombenhagel ihr nicht so viel Angst gemacht, wäre sie geblieben. Sie schluchzt. Nach sieben Tagen im Bunker habe sie sich entschieden zu fliehen, vier Tage habe sie bis Berlin gebraucht. Sie habe weder Mann noch Kinder. Nur eine Katze habe sie gehabt, und diese hätte sie auf der Flucht zurücklassen müssen. Jetzt sei sie ganz alleine. Tränen laufen über ihre Wangen. „Ich will doch nur zurück“, sagt sie. Wir halten ihre Hände. Hierfür gibt es keine Worte, in keiner Sprache.

Wir finden in dieser Nacht keinen Weg für sie nach Portugal. Stattdessen begleiten wir sie zu einem Bus, der sie zu einer Unterkunft bringen wird, in der sie hoffentlich für ein paar wenige Stunden Schlaf und Frieden finden wird. Beim Abschied weint sie erneut. „Ihr seid gerade die einzigen Menschen, die ich auf dieser Welt habe.“ Ein Stich in meiner Brust, eine Gruppenumarmung zu dritt. Dann steigt sie ein, wir winken, der Bus fährt ab.

Um halb drei mache ich mich auf den Weg nach Hause, ausnahmsweise ohne Musik im Ohr, und denke in die Stille. Es waren Begegnungen mit vier von 800 Menschen, die am Dienstagabend mit diesem Zug aus Warschau ankamen. Vier von etwa 10.000, die derzeit täglich in Berlin ankommen. Vier von Hunderttausenden, die in den nächsten Wochen noch ankommen werden. Vier von viel zu vielen, die ihr Zuhause gerade hinter sich lassen müssen.

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