Mary L. Gray ist eine amerikanische Anthropologin und Autorin, die an der Harvard University in Boston lehrt. In ihrem Buch „Ghost Work“ beschreiben sie und Siddharth Suri, wie durch die Automatisierung ein neues Proletariat entsteht. Hinter vielen Dienstleistungen von Uber, Lyft, Amazon und Co., die mit der Hilfe von Apps und Maschinen erbracht werden, stecken „Geisterarbeiter“ oder Gig-Worker in prekären Arbeitsverhältnissen. Wer ist für diese Menschen verantwortlich?
Frau Gray, der Mensch als Dienstleistung – wird diese Form der Arbeit in Zukunft unsere Normalität sein?
Ich denke, dass wir in vielerlei Hinsicht vergessen, wie sehr Menschen, die ihre Dienste anbieten, ein Teil unserer Gegenwart und Vergangenheit sind, wenn es um Arbeit und Beschäftigung geht. Wenn wir als Erstes an Beschäftigung denken, sehen wir den Bauarbeiter oder den Taxifahrer, wir können uns vorstellen, dass diese Person eine Maschine bedient oder etwas baut. In allen Fällen bieten sie mehr als nur ihre manuelle Arbeit an, insbesondere in den sogenannten Dienstleistungswirtschaften.
Das meiste, was jemand anbietet, ist seine Verfügbarkeit, seine Fürsorge. Das gilt besonders für den Gesundheitsbereich. Ich glaube, es ist wichtig für uns zu sehen, dass es nicht neu ist, dass Menschen ihre Dienste anbieten. Der Unterschied besteht darin, dass es durch die Automatisierung jetzt noch schwieriger ist, zu erkennen, wie viele Menschen an etwas beteiligt sind, von dem wir als Verbraucher oder Unternehmen profitieren.
Meistgelesene Artikel
Geisterarbeiter sind oft unterbezahlt, unterversichert und in keiner Gewerkschaft organisiert. Welche Rolle spielt die berufliche Identität dieser Menschen?
Wir neigen dazu, über Dienstleistungsarbeit in sehr spezifischen Begriffen zu denken. Und ich glaube, dass es für uns alle eine Herausforderung ist, zu erkennen, dass die Zukunft der Arbeit oft kreative Arbeit ist, die nicht ohne Weiteres durch Automatisierung oder Maschinen erledigt werden kann. Wir werden also immer mehr Dienstleistungsarbeit sehen, Arbeit, bei der wir uns gegenseitig helfen.
Es stimmt auch, dass wir uns bei unseren Überlegungen zu den Arbeitsbedingungen vor allem auf die Fabriken konzentriert haben. Bei der Organisation von Arbeitnehmerrechten sind wir meist von drei Dingen ausgegangen: Es gibt einen einzigen Arbeitgeber, es gibt einen Arbeitsplatz, und es gibt eine Art von beruflicher Identität, die jemandem hilft, sich zu orientieren, wer ein Kollege ist und wie man sich solidarisieren kann. Die Herausforderung für die Zukunft besteht aber darin, zu erkennen, dass wir neue Ansätze brauchen, wie wir die Grundlagen für einen angemessenen Arbeitsplatz organisieren und bereitstellen können.
Sind wir immer noch als autonome Akteure in dieser digitalisierten Arbeitswelt tätig? Ist diese neue Welt der Arbeit noch unsere Welt?
Wir fühlen uns von der Arbeit oft so entfremdet, weil wir nicht wählen können, was wir tun, wie wir es tun und mit wem wir arbeiten. Und das Interessante an der Zunahme der Gig-Arbeit in der Vertragsarbeit ist, dass sie widerspiegelt, was in der formellen Wirtschaft nicht funktioniert. In vielen formellen Arbeitsverhältnissen haben Arbeitnehmer nicht die Art von Wahlmöglichkeiten, die wir mit einem guten Arbeitsumfeld in Verbindung bringen.

Es ist wichtig, hier an die globalen Bedürfnisse zu denken, denn ein Großteil der Dienstleistungsarbeit, die von Computersystemen verwaltet wird, wird uns global verbinden. Die Herausforderung besteht darin, wie wir das in anderen Teilen der Welt regeln können, wo es keine formellen Arbeitsverhältnisse gibt. Betrachtet man beispielsweise Indien und die Vereinigten Staaten im Rahmen der Forschung, stellt sich die Frage, wie wir eine menschenwürdige Arbeit, einen menschenwürdigen Arbeitsplatz für alle schaffen wollen und dies nicht nur als ein nationales Projekt betrachten. Das ist eine große Herausforderung.
Wenn wir vor noch nicht allzu langer Zeit zusammen in einem Team arbeiteten, haben wir miteinander geredet, wir konnten Auge in Auge diskutieren. Aber jetzt, in dieser sogenannten Gig-Economy, ist das nicht mehr möglich. Das ist nicht nur schade, es schwächt auch unsere soziale Kompetenz und Verhandlungsposition. Kann man das Homeoffice also als eine positive Entwicklung einstufen?
Ich glaube nicht, dass es positiv ist. Obwohl ich sagen möchte, dass uns aufgefallen ist, dass die Menschen, die Homeoffice machen, so unterschiedlich sind wie die gesamte Bevölkerung. Alle diese Menschen sind notwendig für einen Arbeitsmarkt, der nicht auf Überflüssigkeit, sondern auf Überfluss ausgerichtet ist. In vielerlei Hinsicht beruhen diese Arbeitsmärkte, diese Gig-Economys, darauf, dass viele Menschen zur Verfügung stehen, um eine Dienstleistung zu erbringen und eine Anfrage jederzeit zu beantworten. Was wir also derzeit nicht bezahlen, ist die Verfügbarkeit von Menschen, wenn sie zu Hause sind.
Zu Ihrem Punkt: Oberflächlich betrachtet scheint es unglaublich entfremdend zu sein, zu Hause isoliert zu arbeiten, ohne jegliche soziale Verbindung zu anderen Menschen. Aber es überrascht nicht, dass in unserer Studie deutlich wurde, dass die Menschen sich online mit anderen austauschen. Sie gehen in die sozialen Medien, sie schreiben sich gegenseitig Nachrichten, sie setzen sich zusammen und telefonieren über Skype. Die Menschen sind also unglaublich resistent dagegen, das aufzugeben, was wir alle von der Arbeit haben, nämlich soziale Kontakte. Es ist für uns alle von Vorteil, wenn Menschen bei der Arbeit miteinander verbunden sind.
Unternehmen, die ihre Firmen umbauen, kümmern sich selten um ihre Arbeitnehmer, wenn sie nicht gesetzlich dazu verpflichtet sind. Warum gibt es an der Stelle kein Engagement?
Das ist schwierig – gerade wenn man bedenkt, wie außergewöhnlich die Arbeitsbedingungen in der EU sind, denn in der Europäischen Union haben die Arbeitnehmer traditionell die Möglichkeit, die Bedingungen ihrer Arbeit mitzubestimmen. Die Verhandlungen mit dem Management und den Arbeitgebern unterscheiden sich also radikal von denen in anderen Teilen der Welt, einschließlich der Vereinigten Staaten.
Die amerikanische Tech-Industrie hat Gig-Arbeit auf der ganzen Welt möglich gemacht. Jetzt ist es ein Verbraucher, der über sein Telefon jemanden kontaktiert, der ihm sein Essen abholt. Aber es ist die Plattform, die dem Verbraucher die Verbindung vermittelt. Das ist im Moment unser größtes Problem. Wer ist der Arbeitgeber, der für die Arbeitsbedingungen eines Gig-Workers verantwortlich ist? Ich denke, es ist wichtig, nicht davon auszugehen, dass wir die Antwort auf diese Frage kennen, damit wir uns zusammensetzen und entscheiden können, wie diese Arbeitsbedingungen für alle aussehen sollen.
Wichtig ist: Unternehmen profitieren kollektiv von Arbeitnehmern, die oft für mehrere Plattformen arbeiten. Es ist nicht ungewöhnlich, dass ein Arbeitnehmer für Lyft und Uber oder Deliveroo arbeitet. Das bedeutet, dass diese Arbeitgeber, diese Unternehmen sich an den Kosten beteiligen sollten, um sicherzustellen, dass dieser Arbeitnehmer versorgt ist. Aber genauso wichtig ist es, dass ein anderer Arbeitnehmer einspringen kann, wenn dieser Arbeitnehmer nicht verfügbar ist – das ist die Neuorientierung, die wir vornehmen müssen. Und wir stehen erst am Anfang. Wir stehen buchstäblich am Anfang eines Umdenkens, was die Arbeitsbedingungen im nächsten Jahrhundert angeht.
Wie wird Ihrer Meinung nach die Beziehung zwischen der Menschheit und den Maschinen in der Zukunft aussehen?
Wir müssen unsere Beziehung zu Maschinen wirklich überdenken, damit wir sehr gezielte Entscheidungen darüber treffen können, wo wir definitiv nicht wollen, dass Maschinen eingreifen. Wir haben uns buchstäblich nie die Frage gestellt, ob eine Maschine eine bestimmte Entscheidung übernehmen könnte, wie etwa den Einsatz von Drohnen für verschiedene private und auch militärische Zwecke.
Bei welchen Dingen wird unsere kollektive, gemeinsame Menschlichkeit entscheiden, dass es nicht für eine Mechanisierung, eine Automatisierung infrage kommt? Diese Diskussion haben wir noch nicht geführt. Für mich ist der interessantere Realitätscheck, dass die Möglichkeiten der Automatisierung ziemlich begrenzt sind, wenn man sie genauer betrachtet. Sie versagt, sobald sie sich mit komplexer Kommunikation befassen muss. Das heißt mit dem, was jemand zu sagen versucht, insbesondere wenn er es in einer anderen Sprache sagt. Das ist deshalb so schwierig, weil niemand weiß, was zehn Minuten später aus dem Mund des anderen kommen wird.
Wir werden also nie in der Lage sein, vorherzusagen, was der andere sagen wird. Das bedeutet, dass komplexe Kommunikation jeglicher Art in der Wirtschaft, im Gesundheitswesen, in jeder Branche, die darauf angewiesen ist, einander zu verstehen, unabdingbar ist. Es braucht dazu einfach immer Menschen.

Es gibt keine Möglichkeit, sich um ein Kind oder einen älteren Menschen zu kümmern, ohne diese kreative Reaktion auf etwas Unerwartetes zu haben. Zum Beispiel, wenn jemand plötzlich stürzen sollte. Wenn man also das Besondere an der Menschheit versteht, wird klar, dass wir immer in der Lage sein werden, Maschinen Dinge für uns erledigen zu lassen. Die Frage ist, ob wir anfangen werden, uns zu fragen, was wir als Dinge, die wir für uns selbst tun, beibehalten wollen, selbst wenn eine Maschine annähernd das tun könnte, was wir brauchen.
Können Sie es vermeiden, tagsüber mit Maschinen jeglicher Art zu arbeiten? Nehmen Sie sich einen Tag die Woche frei von Maschinen?
Es ist eine faszinierende Erfahrung, seine Geräte aufzugeben. Es ist ziemlich spießig geworden, kein Internet oder Smartphone zu haben. Das sind bemerkenswerte Momente und auch ein Privileg, sich tagsüber von seinen Geräten zu trennen. Wichtig ist, dass dies Momente sind, in denen wir darüber nachdenken können, wie sehr wir uns danach sehnen, von dem Abstand zu gewinnen, was unsere Technologien uns abverlangt haben.
Es ist nicht die Technologie, die uns das antut. Es sind wir, die es uns gegenseitig antun. Wissen Sie, wir sitzen am anderen Ende unserer E-Mail-Konten. Der zukünftige Weg besteht also darin, zu erkennen, dass diese Technologien nicht zu uns werden, es sei denn, wir verlieren aus den Augen, was in unserer Beziehung zueinander wichtig ist. Wir werden trotzdem immer nach neuen Wegen suchen, um unsere Verbindungen zu verbessern. Selbst bei Stromausfällen und Blackouts werden wir uns mit der Frage beschäftigen, wie wir in Verbindung bleiben, wie wir das Wlan aufrechterhalten können und welche Strategien es dafür gibt.
Das bedeutet, dass wir alle davon abhängig geworden sind, dass wir über eine Internetverbindung kommunizieren können, was eine ziemlich komplexe Infrastruktur darstellt. Das ist nicht per se schlecht oder gut. Die Frage ist nur, was wir mit dieser Verbindung anfangen wollen. Und das Letzte, was ich möchte, ist, dass wir sie als selbstverständlich ansehen, denn es gibt viele Menschen, die keine Online-Verbindung haben. Das bedeutet, dass sie keinen Zugang zur Beschäftigung besitzen. Wir sollten also darüber nachdenken, wie wir sicherstellen können, dass diese Konnektivität eine Quelle des Nutzens ist, die gleichberechtigt ist, und nicht etwas, das ein Privileg ist, auf das man verzichten kann.
Das ist ein Beitrag, der im Rahmen unserer Open-Source-Initiative eingereicht wurde. Mit Open Source gibt der Berliner Verlag freien Autorinnen und Autoren sowie jedem Interessierten die Möglichkeit, Texte mit inhaltlicher Relevanz und professionellen Qualitätsstandards anzubieten. Ausgewählte Beiträge werden veröffentlicht und honoriert.