Japanische Erkenntnis: Die Seele eines Dreijährigen bleibt ihm 100 Jahre

Die Hirnentwicklung in den ersten drei Jahren stellt entscheidende Weichen für Krankheiten und Lebenserwartung. Diese Phase wird leider häufig unterschätzt.

In den ersten drei Jahren entscheidet sich, ob ein Kind seelisch stabil aufwächst, wie belastbar und stresstolerant es später ist.
In den ersten drei Jahren entscheidet sich, ob ein Kind seelisch stabil aufwächst, wie belastbar und stresstolerant es später ist.Sebastian Gollnow/dpa

Japan ist ein wunderschönes Land mit einer bezaubernden Natur und ästhetischen Kultur. Japan ist aber auch ein seltsames Land voll irritierender Gegensätze.

Einerseits ist es ein hochindustrialisiertes, hochmodernes Land, andererseits sehr in seiner Tradition verhaftet. Einerseits ist es ein extrem höfliches, harmonisches und sauberes, sehr auf seine Außenwirkung bedachtes Land, andererseits voller menschlicher Abgründe – was etwa Zeit der Militärdiktatur und des Zweiten Weltkrieges betrifft oder bis in die Gegenwart den Umgang mit Meeressäugern. Einerseits ist es das Land mit den ältesten Menschen der Welt, andererseits das Land des Karoshi, des Seppuku und des Aokigahara.

Es ist nicht einfach zu verstehen, warum die Japaner so sind, wie sie sind. Und je mehr man über das Land und seine Bewohner erfährt, um so rätselhafter erscheinen sie. Etwas besser versteht man Japan, wenn man die Rolle der Frau und Mutter in Japan und deren evolutionäre Bedeutung kennt. Die historisch-kulturellen Hintergründe sind neben vielen weiteren Aspekten zwar auch bedeutsam, müssen hier jedoch aus Platzgründen weggelassen werden.

Japaner und die moderne Hirnforschung

Haben Sie sich schon einmal gefragt, warum viele Japaner so gesund alt werden? Und warum es dort die „Inseln der Hundertjährigen“ gibt? Haben Sie schon mal etwas vom japanischen Raucher-Paradoxon gehört, wonach männliche, japanische Raucher gegenüber Nichtrauchern zwar ein sechsfach erhöhtes Lungenkrebsrisiko haben, jedoch US-amerikanische Raucher (bei gleichem Zigarettenkonsum) ein 20-fach erhöhtes Lungenkrebsrisiko?

Nur mit gesünderem Lebensstil, besonderer Ernährung, Bewegung, Sport oder der allseits beliebten Genetik lassen sich solche Dinge nur schwer erklären. Aber die moderne Hirnforschung hat in den letzten Jahrzehnten hier enorme Fortschritte gemacht.

Die Seele eines Dreijährigen bleibt ihm 100 Jahre.

Japanische Weisheit

Schon länger ist bekannt, dass bei der Geburt eines Kindes dessen Hirnzellen praktisch alle schon vorhanden sind. In den ersten Lebensjahren entwickelt sich besonders die Myelenisierung der Nervenbahnen. Ohne diese spezielle Fettummantelung liegt die Nervenleitgeschwindigkeit bei ca. 3 m/s – da kann man dabei zuschauen,  wie der Nervenimpuls weitergeleitet wird. Nach der Ummantelung liegt die Nervenleitgeschwindigkeit ein bis zwei Größenordnungen darüber. Dies ist wie der Ausbau eines Feldwegs zur Autobahn – während des laufenden Verkehrs.

Die Gehirnentwicklung erfolgt in Zeitfenstern

Und gerade da, wo die Baustellen sind, passieren die meisten Unfälle, auch im Gehirn, wenn man nicht „aufpasst“. Dieses „Online“-Gehen der verschiedenen Bereiche des Gehirns folgt in Zeitfenstern der evolutionären Entwicklung des Gehirns: vom Stammhirn über das Mittelhirn bis zum Großhirn mit dem präfrontalen Cortex, dessen Ausbildung noch in den 20er-Jahren und darüber hinaus anhält.

Es gibt aber einen Bereich des Gehirns, den wir praktisch mit allen Säugetieren und den meisten Wirbeltieren gemein haben: das limbische System. Dies ist für unsere Emotionen – im wesentlichen Freude und Angst – zuständig. Etwa im Alter von 1,5 Jahren geht das Angstzentrum, die Amygdala, „online“. Man merkt das daran, dass das Kind so richtig Angst bekommen kann und auch sonst extrem emotional (mit Wut, Ärger, Freude) reagiert.

In dieser Phase ist es enorm wichtig, dass die primäre Bezugsperson, in der Regel die Mutter, dem Kind in seiner Angst beisteht und es beruhigt. Das setzt einen unbewussten Lernprozess in Gang, den man als die Bildung einer inneren Mutter bezeichnen könnte. In menschliche Sprache übersetzt – das limbische System kennt keine Sprache oder rationalen Gedanken – lautet das Mantra: „Mama ist da und beschützt dich. Alles wird wieder gut“. Am Ende dieser Phase hat das Kind die emotionale Autoregulation erlernt, das heißt, es kann sich auch ohne Mutter unbewusst und vollkommen autonom beruhigen, wenn es Angst und Stress hat.

Mit drei Jahren ist die seelische Geburt abgeschlossen

Im Alter von etwa drei Jahren ist dieser Lernprozess ab- und das Zeitfenster geschlossen. Der Hippocampus, das „Navi“ im Gehirn, geht „online“, und das Kind beginnt Personen, Dinge und Prozesse in Zeit und Raum zu abstrahieren. Drei Jahre? Hatten wir das nicht schon irgendwo? Die Seele eines Dreijährigen bleibt ihm 100 Jahre – Mitsugo no tamashii hyaku made!

Was die moderne Hirnforschung erst in den letzten Jahrzehnten herausgefunden hat, „wissen“ die Japaner schon lange: Mit etwa drei Jahren ist die sogenannte seelische Geburt abgeschlossen, und das Kind hat bis dahin die emotionale Autoregulation sehr gut, gut, weniger gut, ausreichend oder schlecht gelernt – und zwar in Abhängigkeit von seiner primären Bezugsperson. Und das Entscheidende: Das bleibt so bis an das Ende seines Lebens!

Wissen Sie, wie Japaner schlafen? Auf dem Boden, auf Futons, ja klar. Aber haben Sie auch gewusst, dass die Familie zusammen schläft, mit Baby und Kleinkind? Wussten Sie, dass es in Japan ein eigenes Wort für Eltern/Mutter-Kind-Beziehung gibt? Oyako. In seinem Vortrag „Gespaltenes Bewusstsein: Empathie versus Kognition“ erklärt Arno Gruen, wie eng die Bindung von Mutter und Kind bei Naturvölkern ist. Solange das Kind noch nicht Laufen kann, hat es ständigen Körperkontakt zur Mutter. Und später bleibt die ihrer Arbeit nachgehende Mutter als sicherer Rückzugsort immer in der Nähe des Kindes, das so seine Umwelt in der richtigen Balance aus Freiheit und Sicherheit explorieren kann.

Fremdbetreuung in früher Phase behindert emotionale Autoregulation

Gerade in der kritischen Phase der seelischen Geburt ist dies wichtig. In dieser existiert eine abwesende Mutter für das Kind nicht mehr, weil eben der Hippocampus noch nicht „online“ ist und das Kind noch nicht richtig abstrahieren kann, dass die Mutter weiterexistiert, auch wenn sie gerade nicht da ist. Wenn dies optimal gelingt, dann hat das Kind für den Rest seines Lebens eine enorme Belastbarkeit und Stresstoleranz, und das bei bester Gesundheit, wie alle Supercentenarians belegen. Besonders die Altersrekordhalterin Jeanne Calment, die 90 Jahre lang rauchte und auch sonst nach eigenen Angaben „nichts Besonderes“ für ihre Gesundheit getan hatte und mit 122 Jahren starb.

Genau das ist der evolutionäre Hintergrund, warum japanische Frauen bei der Geburt ihres ersten Kindes sogleich Hausfrau und Mutter werden (wollen). Das ist keine in diesem Sinn bewusste Entscheidung, zumal dies in Japan die traditionelle, soziale Erwartungshaltung ist. Eigentlich hat jede Mutter im Gefühl, dass das so richtig ist und so sein „muss“, wenn es da keine kulturelle Überprägung gäbe, wie es vor allem im Westen der Fall ist.

Wenn der Mutter eingeredet wird oder sie sich selbst einredet oder sich finanziell gezwungen sieht, arbeiten zu gehen, dann besteht die Gefahr, dass sie gegen ihre Gefühle als Mutter handelt (häufig mit schlechtem Gewissen) und ihr Kind fremdbetreuen lässt. Die Folge während der Phase der seelischen Geburt besteht in einer frühkindlichen Traumatisierung beziehungsweise einer schlecht erlernten emotionalen Autoregulation. Das Kind und später der Erwachsene kann seine Emotionen und besonders seine Ängste nicht selbst effektiv kontrollieren.

Traumatisierte Mütter sind schlechte emotionale Lehrmeister

Die Folgen sind „Persönlichkeitsstörungen“, psychosomatische Erkrankungen, soziale Probleme, Risiko- und Suchtverhalten, Depressionen, Burnout bis hin zum vorzeitigen Tod (Krebs, Schlaganfall, Infarkt, Suizid und so weiter), wie es in der ACE-Pyramide zum Ausdruck kommt. Solche Menschen befinden sich quasi im Dauerstress, und chronischer Stress macht krank. Und das fast Schlimmste daran, abgesehen von den bedauernswerten Einzelschicksalen: Mütter, die selbst traumatisiert sind beziehungsweise die emotionale Autoregulation selbst schlecht erlernt haben, sind darin auch schlechte Lehrmeister.

Die Traumatisierung tradiert sich von einer Generation zur nächsten, was geradezu Ausmaße biblischer Generationenstrafen annehmen kann. Ganz anders aber eben in der japanischen Gesellschaft mit den traditionellen Geschlechterrollen. Dadurch, dass die Mutter zu Hause beim Kind ist, mit diesem eine Oyako, eine Einheit, bildet und rund um die Uhr in seiner Nähe ist, erlernen praktisch alle Japaner die emotionale Autoregulation auf sehr hohem Niveau und sind dann in Schule und Beruf extrem belastbar.

Was also tun? Japan befindet sich (noch) in der eigentlich komfortablen Lage, eine Beziehung zu seinen Wurzeln zu haben. Dass immer noch so viele junge Frauen gerne Hausfrau und Mutter werden wollen, ist eigentlich ein Zeichen, dass diese der nächsten Generation eine gute, emotional und auch sonst gesunde Zukunft bereiten wollen, was im Westen schon weitgehend verloren gegangen ist.

Es bräuchte Arbeitsplätze für junge Mutter-Kind-Einheiten

Nur wie lässt sich das mit einer modernen Arbeitswelt vereinbaren? Gegen Emanzipation im Sinne einer Befreiung der Frauen von der Kette an die drei Ks dürfte kaum jemand noch sein. Kann man Familie und Beruf nicht unter einen Hut bekommen? Die Antwort liegt meiner Ansicht nach in den Naturvolkwurzeln der japanischen Kultur: Oyako – Mutter und Kind als Einheit. Wie im Vortrag von Arno Gruen erwähnt, sind Mütter in Naturvölkern nicht untätig oder unproduktiv. Auch bei schwersten Arbeiten ist – wo auch immer – ein Platz für das Kind am Körper der Mutter.

Es bräuchte also Arbeitsplätze für junge Mutter-Kind-Einheiten. Das Deutsche tut sich da schwer, denn es gibt da kein Wort für Oyako. Am besten wir übernehmen „Oyako“ als Fremdwort und Konzept in unsere Sprache, im Sinne der physisch-psychischen Unzertrennlichkeit von Mutter und Kind, bis „Hänschen Klein von allein geht in die weite Welt hinein“. Aber das Mindeste, das man tun sollte, ist Prävention. Man sollte die künftigen Eltern darüber aufklären, und zwar am besten gegen Ende der Schulpflichtzeit, wenn sie noch alle zusammen sind, bevor sie sich in alle Winde zerstreuen.

Nichts in der Biologie macht Sinn, außer im Licht der Evolution.

Theodosius Dobzhansky

Sobald man jedoch jemandem diese Vorstellungen und Modelle von frühkindlich erlernter emotionaler Autoregulation beziehungsweise ebensolcher Traumatisierung, Kindererziehung, primärer Bezugsperson, Oyako und so weiter präsentiert, kommen meist die Einwände wie von selbst: „Das ist doch reaktionär!“ – „Soll die ganze Emanzipation umsonst gewesen sein?“ – „Was ist mit der Verantwortung der Väter für die Kindererziehung?“ Meist kommen diese Einwände von Leuten, die sich mit dieser Thematik (noch) nicht wirklich ernsthaft und eingehend auf evolutionärer Ebene und der ontologischen Hirnentwicklung beim Menschen befasst haben, sondern bestenfalls auf einem sehr oberflächlichen, häufig auch ideologisch überprägten Niveau argumentieren.

Evolutionär tief sitzende biologische Grundlagen

Die hier dargelegten Überlegungen und Erkenntnisse fußen auf evolutionär sehr tief sitzenden biologischen Grundlagen, für die es viele „Kronzeugen“ aus der Hirnforschung, Traumaforschung und Soziologie gibt. Wenn man Kritik daran anbringt, sollte man zumindest in Grundzügen diese Zusammenhänge nachvollziehen. Denn dann klären sich Missverständnisse wie „die Großeltern können sich doch auch um das Kind kümmern, wenn die Mama arbeiten ist“, oder „man kann doch alles lernen“ auf.

Nur dann können wir als Erwachsene uns in die Lage eines Kleinkindes im kritischen Alter („sitting duck“) versetzen und richtig beurteilen, warum die auch immer „abwesende“ engste Bezugsperson Todesangst für das Kind bedeuten kann. Man könnte es als Ironie der Evolution betrachten, dass wir alle, die diesen Text lesen und zumindest kognitiv erfassen können, jene Phase der emotionalen Geburt erlebt haben, daran aber keinerlei oder bestenfalls bruchstückhafte Erinnerung haben, was uns zu den größten Missverständnissen unseres Verstandes über uns selbst und unsere Kinder verleitet – auch die Japaner mit ihren abenomics.

Cassiel Randomson ist von der Ausbildung her Geoökologe, befasst sich aber seit 2015 intensiv als Blogger mit frühkindlicher Traumatisierung und komplexer posttraumatischer Belastungsstörung.

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