Wie eine Frau im Wartezimmer mir zeigte, was Realismus ist

Wie geht man mit Unglück um? Durch Zufall trifft unsere Autorin eine Frau im Ärzte-Wartezimmer, die einen Weg gefunden hat.

Unbekannte Frau im Ärzte-Wartezimmer (Symbolbild)
Unbekannte Frau im Ärzte-Wartezimmer (Symbolbild)YAY Images/imago

Viel und oft unterwegs treffe ich auf meinen Reisen an ständig wechselnden Orten immer wieder Personen, mit denen ich ins Gespräch komme, die sich mir anvertrauen und berichten. Diese kurzen Einblicke in das Leben anderer zu erfahren, deren Geschichten zu hören, unfertig und unvollkommen, ist ein Privileg und Inspiration. Fremde, die erzählen, anonym und in den meisten Fällen unvorhergesehen. So entstehen diese Unterwegsgespräche.

Ich sitze im Wartebereich eines Krankenhauses. Um den etwas zu hohen Tisch stehen unordentlich verteilt einige Stühle; sie stehen auf engem Raum neben einem Raumteiler, hinter dem die Fahrstühle sind und Fensterfront, aus dem man das Grün der Bäume sehen würde, wäre es nicht Winter. Die einzige außer mir Anwesende sieht mich erst abwartend an, fragt mich schließlich, ob es in Ordnung sei, wenn sie ihre Maske unten behalte; sie könne dadurch so schlecht atmen.

Ich gestatte es ihr, denn ich verbringe ohnehin die meiste Zeit in Ländern, in denen die Masken längst so gut wie obsolet geworden sind. Vielleicht kommen wir deshalb unverzüglich ins Gespräch. Sie beginnt mit ihrem Frust über die Corona-Regelungen, über die sie mehr genervt als wirklich übellaunig zu sein scheint. Schnell kommt sie zum Grund, warum sie heute hier ist: Krebs. Im Oktober 2021 hat sie ihre Chemo-Therapie beendet. Auf meine Frage, ob sie den Krebs gut überstanden habe, antwortet sie zwar mit einem Ja, aber die Chemo habe ihr übel mitgespielt. „Anfangs ging’s, aber dann lag ich flach.“

Den Hund, den sie sich angeschafft hatte, weil sie allein lebte, konnte sie irgendwann nicht mehr Gassi führen, „das musste meine Enkelin dann übernehmen“. Als wenn die Brustkrebserkrankung inmitten der Covid-Pandemie nicht schon hart genug wäre, erzählt mir die Frau, dass sie vor ihrer Krebsbehandlung eine Zahn-OP hatte: „Ich hatte keine Zähne, und wegen der Chemo keine Haare. Ich sah aus! Aber ich bin alt, da kann ich mir das erlauben“, lacht sie schelmig. „Und davor hatte ich ein Nieren-Karzinom, und jetzt habe ich noch was an der Vene am Fuß von der Chemo, weshalb ich Physio bekomme.“

Trotz eigener Krankheitsfälle, braucht sie ihre Arbeit als Pflegerin.
Trotz eigener Krankheitsfälle, braucht sie ihre Arbeit als Pflegerin.Stephanie Moore/imago

„Wat soll ich denn in Rente?“

Nur vor drei Jahren war sie mal aus einem schönen Grund hier, „als meine jüngste Enkelin geboren wurde“. Die Frau in dem grauen Anorak mit lila Streifen, passend zum Lila ihres Schals, ist 63 Jahre alt, wie sie mir erzählt, wobei sie darüber erst kurz nachdenken musste. Sie sieht wesentlich älter aus. Kein Wunder. Trotz ihres Alters und all ihrer Krankheiten arbeitet sie noch immer, ausgerechnet in der körperlich wie seelisch so anstrengenden Pflege.

Auf meine Frage, warum sie nicht in Rente ist, die Erkrankungen nicht zum Anlass dafür nahm, antwortet sie mir fast erbost: „Wat soll ick denn in Rente?“ Sie müsse beschäftigt sein und könne nicht die ganze Zeit in der Wohnung absitzen. „Mal ’ne Woche im Urlaub, oder krank is jut, aber jeden Tag – nee! Auf Arbeit werde ick jebraucht und habe was zu tun.“

Sie gesteht aber auch, dass sie es sich finanziell nicht erlauben könne, aber mehr noch „mental nicht“. Sie beginnt, mir von ihrer Arbeit zu erzählen. Seit drei Jahren ist sie Teil eines Pflegeteams für einen „Jungen, der nach der Schule vom Bus erwischt wurde. Wachkomapatient“. Ich möchte es genauer wissen und frage nach: Der Junge war 14 Jahre alt, als er auf dem Heimweg nach der Schule angefahren wurde – vor 27 Jahren.

„Ein hartes Los“, sage ich, woraufhin sie mich kurz irritiert anschaut und entgegnet, dass seine Eltern mit ihm jedes Jahr in den Urlaub fahren würden. „Er war schon überall“, und sie zählt auf „Amerika, Afrika, Asien …“. Die Eltern haben sogar einen kleinen Camper eigens für seine Bedürfnisse angepasst. „Den Camper klappt man auf und dann ist da sein Bett unter freiem Himmel.“

Als die Eltern vor wenigen Jahren einmal ohne ihn in den Urlaub gefahren sind, habe er so lange gekrampft und gewimmert, bis sie ihren Urlaub abbrachen und früher Heim fuhren. Ich erfahre nicht, wie oft sie bei dem „Jungen“ ist, wie viele Stunden sie beschäftigt, wie mühsam tatsächlich die Pflege eines 41-jährigen Wachkomapatienten ist, der zwar anwesend, aber nie wirklich da ist. Oder wie die Familie auf die Erkrankung ihrer Pflegekraft reagiert hat, die sie sichtlich Kraft kostet. „Letztes Jahr haben sie mir einen neuen Herd für meine Küche zum Geburtstag geschenkt.“

Sie spricht über ihre langjährige Bindung zu Patienten und deren Familien.
Sie spricht über ihre langjährige Bindung zu Patienten und deren Familien.Stephanie Moore/imago

Realismus oder Optimismus?

Optimist ist, wer erkennt, dass das Glas halb voll ist; Realist ist hingegen diejenige, die weiß, dass das Glas irgendwann so oder so leer sein wird. Die Frau vor mir begegnet ihrem Unglück, als gehöre es eben genauso zum Leben wie das Glück. Beides ist vergänglich. Mit der für Berliner sprichwörtlichen, nüchternen Gleichgültigkeit nimmt diese Frau die Dinge im Leben an, als seien sie zu große Aufregung einfach nicht wert. „Dis is jetzte halt so.“

Immer hat man zwar die Wahl, diesen oder jenen Weg einzuschlagen, aber dann kommt es doch unvorhergesehen. Was nicht zu ändern ist: „Der Jahreswechsel war schlimm – und teuer.“ Um Weihnachten habe sie sich, trotz 3-facher Impfung, mit Covid angesteckt. Gleich in der ersten Januarwoche folgte das nächste Desaster.

Sie war beim Netto einkaufen, hatte alles im Auto verstaut und ihren Rucksack auf dem Beifahrersitz gelassen. „Als ich den Einkaufswagen weggebracht habe und wieder zum Auto zurückkam, war die Tasche weg.“ Und mit ihr alle wichtigen Dokumente und knapp 500 Euro, die sie für die Versicherung dabei hatte. „Ich musste mir alles neu ausstellen lassen: Pass, Impfbuch, Versichungskarten und, und, und.“ Und dennoch lacht sie, ist halt so. „Kann man nischts machen.“ Außer damit umgehen und hinnehmen, was nicht zu ändern ist. Das schien ihre Einstellung zum Leben zu sein.

Wir sind noch mitten im Gespräch, da wird sie von einer Krankenschwester abgeholt. Und so abrupt, wie ich mich mit ihr mitten im Gespräch wiederfand, so endet es nun. Ohne sich noch einmal nach mir umzudrehen, ohne ein Zeichen des Abschieds, ist sie bereits im Gespräch mit der Krankenschwester vertieft und auf dem Weg zum Behandlungszimmer. So verpasse ich den Moment, nach ihrem Namen zu fragen. Während sie weg ist und ich allein zurückbleibe, denke ich noch darüber nach, was sie mir in der kurzen Zeit unseres Gesprächs alles erzählt hat. Und ich frage mich plötzlich: Ist sie denn schon viel gereist und hat die Welt gesehen? Ich erfahre es nicht.

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