Ich bin Russin, lebe in Berlin, hasse Putin – aber ich zweifle an den Sanktionen

Unsere Autorin ist 28, liberale Russin, lebt in Berlin. Trotzdem findet sie, dass der Westen falsch handelt, indem er Antipathien gegen Russland schürt.

Bereitschaftspolizisten während einer Antikriegsdemonstration gegen den russischen Militäreinsatz in der Ukraine in Moskau, Russland 6. März 2022.
Bereitschaftspolizisten während einer Antikriegsdemonstration gegen den russischen Militäreinsatz in der Ukraine in Moskau, Russland 6. März 2022.Imago

Die Redaktion der Berliner Zeitung am Wochenende wollte wissen, wie junge Russinnen und Russen, die in Berlin leben, den Krieg in der Ukraine erleben und wie sie jetzt auf ihr Heimatland Russland schauen. Darina Bagrova* hat sich bei uns gemeldet und ihre Geschichte bei „Open Source“ eingereicht. Feedback an die Autorin leiten wir weiter, schreiben Sie eine E-Mail an: briefe@berliner-zeitung.de

Wir schreiben den Anfang des Jahres 2022. Die Menschheit navigiert sich erfolgreich durch ein neues Jahr der Covid-19-Pandemie, die das Leben in digitale Sphären verschoben hat, während bereits Pläne für eine bessere Zukunft geschmiedet werden. So sah die Welt aus, bevor Wladimir Putin am frühen Morgen des 24. Februar 2022 den Befehl zum Angriff auf die Ukraine gab. Es ist nun fast drei Wochen her, dass die internationale Gemeinschaft von dieser tragischen Nachricht aufgerüttelt wurde. Seitdem fühlt sich das Leben wie ein Albtraum an.

Ich stamme aus Russland. Ich bin 28 Jahre alt. Ich wohne in Berlin, bin aber in Moskau aufgewachsen und habe immer noch Familie, Freunde, Eltern, Verwandte in Russland. Präsident Putin ist schon so lange an der Macht, dass ich mich an kein anderes Staatsoberhaupt erinnern kann. Es ist purer Wahnsinn, über diese Tatsache nachzudenken. Ich habe immer gewusst, dass es so nicht sein sollte. Und doch zeigen die Zahlen, dass Putin bei jeder Wahl gewonnen hat. „Warum haben die Russen nichts gegen Putin unternommen?“, werden Sie jetzt berechtigterweise fragen. Ich kann darauf antworten: Die Russen haben sehr wohl etwas dagegen unternommen. Zumindest haben sie es versucht.

Diejenigen Politiker, Journalisten und Geschäftsleute, die sich gegen Putin aufgelehnt haben, mussten einen hohen Preis zahlen. Ihr politischer Widerstand führte dazu, dass sie getötet, unter falschen Anschuldigungen inhaftiert wurden oder das Land verlassen mussten. Denken Sie an Anna Politkowskaja, Boris Nemzow, Michail Chodorkowski. Im Laufe der Jahre kam es zu zahlreichen Protesten aus dem Volk heraus. Zehntausende Menschen wurden von der Polizei verprügelt und verhaftet.

Der Preis für Protest: Michail Chodorkowski hinter Gittern.
Der Preis für Protest: Michail Chodorkowski hinter Gittern.AP

Alexej Nawalny als Actionheld

Gewalt hinterlässt immer Spuren: Manche Menschen sind in der Lage, nach staatlichen Attacken und physischen Angriffen weiterzumachen und ein mehr oder weniger „normales“ Leben zu führen. Andere werden seelisch (und manchmal auch körperlich) traumatisiert, was sich darin äußert, dass sie sich völlig hilflos fühlen und nicht bereit sind, sich auf weitere Proteste oder Konflikte einzulassen. Insbesondere wenn es um Konflikte mit voll ausgerüsteten und maskierten Polizisten geht.

Jahrelang gab Alexej Nawalny, einer der prominentesten Oppositionsführer in Russland, vielen Russen die Hoffnung, dass sich ihr Land verändern könnte. Manche dachten sogar, dass Nawalny der neue Präsident Russlands werden könnte. Jetzt sitzt er im Gefängnis, nachdem er wie durch ein Wunder einen Giftanschlag überlebt hat. Vielleicht wird seine Geschichte eines Tages als epischer Actionfilm verfilmt werden. Falls es so sein sollte, hoffe ich, dass es ein Film mit einem Happy End sein wird oder – falls das zu viel verlangt ist – mit einem Ende, bei dem er überlebt und aus dem Gefängnis entlassen wird.

Einer der bekanntesten Oppositionellen: Alexej Nawalny hinter Gittern.
Einer der bekanntesten Oppositionellen: Alexej Nawalny hinter Gittern.Evgeny Feldman/Meduza/AP/dpa

Niemand hat erwartet, dass Putin die Grenze der Vernunft überschreitet

Aktuell sieht die Lage in Russland aber ziemlich düster aus: Der einzige ernst zu nehmende politische Gegner Putins sitzt in Haft. Russland hat sich in einen autoritären Staat verwandelt, der von einer einzigen Person kontrolliert wird. Das Land ist ein Polizeistaat geworden, in dem die Bürger berechtigte Angst vor den Behörden haben, die vollständig von der Regierung kontrolliert werden.

Die Russen sind mit dem Präsidenten und seinem korrupten Regime allein gelassen worden. Nach zwei Jahrzehnten der Herrschaft Putins ist Korruption traurige Realität, die jeder anerkennt, mit der jeder leben muss und mit der jeder zu leben gelernt hat. Leider ist es fast schon normal, in Russland die Nachricht zu hören, dass irgendein Regierungsbeamter mehrere Wohnungen, Schlösser, Jachten und Luxusautos besitzt, während ein normaler Russe, der seine Steuern zahlt, täglich ums Überleben kämpfen muss.

Dennoch hat niemand erwartet, dass Putin die Grenze der Vernunft überschreitet und die Ukraine angreifen würde.

Wladimir Putin
Wladimir PutinAP

Die russische Gesellschaft ist gespalten

Der Plan für den Beginn eines Angriffskrieges in der Ukraine war den Russen nie gezeigt worden. Es gab kein Referendum, keine Abstimmung, keinen Meinungsaustausch mit dem Volk. Putin hat sich nie darum gekümmert, was sein Volk will. Er hat immer nur das getan, was er will.

Es ist schwer, alle Faktoren, die seine Entscheidung für einen Angriffskrieg beeinflusst haben, zu diesem Zeitpunkt vollständig zu verstehen. Vielleicht werden wir sie irgendwann durchdringen und nach Jahren der Analyse in Geschichtsbüchern nachlesen können. Klar ist jetzt, dass die russische Gesellschaft gespalten ist: Es gibt diejenigen, die gegen den Krieg sind. Und es gibt diejenigen, die ihn unterstützen (George Orwells Dystopie aus dem Roman „1984“ erscheint heute nicht mehr wie ein Fantasiegebilde). Außerdem gibt es noch diejenigen, die sich noch nicht für eine Seite entscheiden können oder wollen. Das ist aber die absolute Minderheit.

Medienzensur und Staatspropaganda

Um die Situation besser zu verstehen, muss man sich einen durchschnittlichen Russen vorstellen, der außerhalb von Moskau und Sankt Petersburg lebt. Dabei handelt es sich um eine Person, die aufgrund der institutionalisierten Korruption in ihren finanziellen und auch beruflichen Möglichkeiten extrem eingeschränkt ist – um es milde auszudrücken. Es handelt sich bei diesem durchschnittlichen Russen um eine Person, die keine anderen Sprachen außer Russisch spricht, noch nie außerhalb von Russland war und keinen internationalen Reisepass besitzt. (Wozu auch, wenn sich ein durchschnittlicher Russe das Reisen nicht leisten kann?)

All das bedeutet, dass der Zugang eines durchschnittlichen Russen zu Informationen ebenfalls extrem eingeschränkt ist. Man muss bedenken, dass es zwar (offiziell) keine Zensur im Land gibt. Alle wichtigen Medien werden aber vom Staat kontrolliert.

Im Jahr 2008 wurde eine spezielle Einrichtung zur Überwachung der Massenmedien geschaffen, die sich Roskomnadsor nennt (Föderaler Dienst für die Überwachung von Kommunikation, Informationstechnologie und Massenmedien). Seitdem hat sich die Aggression dieser Behörde und ihrer fleißigen Mitarbeiter, deren unmittelbare Aufgabe es ist, „fragwürdige“ Informationen aufzuspüren, zu melden und zu blockieren, immer mehr verschärft und ausgebreitet.

Nach dem Beginn des Krieges in der Ukraine traten zudem einige neue Gesetze in Kraft: zum Beispiel das sogenannte „Anti-Fake“-Gesetz, das für die Verbreitung von „Fake News“ über die Streitkräfte der Russischen Föderation eine Freiheitsstrafe von bis zu 15 Jahren vorsieht. Um ein Beispiel für das Ausmaß dieses Gesetzes zu nennen: Wenn man diesen Krieg als „Krieg“ bezeichnet, verbreitet man aus Sicht des Staates „Fake News“. Denn für die russische Regierung handelt es sich in der Ukraine nicht um einen Krieg, sondern um eine „Militäroperation“. Es gibt also kaum eine Möglichkeit, eine andere Perspektive auf das, was jetzt in der Ukraine passiert, zu bekommen, als die, die der Staat propagiert.

Der Staat hat alles unter Kontrolle in Russland. Hier ein Bild der Duma.
Der Staat hat alles unter Kontrolle in Russland. Hier ein Bild der Duma.AFP

Ein russisch klingender Name kann schon zu Diskriminierung führen

Kommen wir nun zum Thema der Sanktionen. Jeden Tag hören wir, dass weitere ausländische Unternehmen entweder das Land verlassen, ihre Beziehungen zu Russland endgültig abbrechen oder ihre Aktivitäten und Investitionen  vorübergehend einstellen. Russland ist derzeit eines der am stärksten sanktionierten Länder der Welt. Aber das ist nur die eine Sache.

Die andere Sache ist die „Cancel Culture“ gegen Russen, ein recht neues Phänomen des 21. Jahrhunderts, das auch die Leserinnen und Leser in Deutschland mittlerweile kennen dürften. Russland wird als Land ausgegrenzt. Russen werden ausgegrenzt und international nicht toleriert. Es gibt viele Fälle von Feindseligkeiten und Gewalt gegenüber Russen in der ganzen Welt, die man in diesem Text aufzählen könnte. Dabei spielt es keine Rolle, ob diese Russen die „Militäroperation“ (also den Krieg) in der Ukraine unterstützen. Es spielt keine Rolle, ob sie friedlich in anderen Ländern leben und arbeiten. Manchmal spielt es nicht einmal eine Rolle, ob sie Russisch sprechen. Ein russisch klingender Name kann heute schon ausreichen, um ausgegrenzt zu werden.

Facebook und der Hass gegen Russen

Soziale Medien sind die wichtigste Plattform für Hassreden und Aufrufe zur Diskriminierung von Russen. Meta, die Mutterorganisation von Facebook – in Russland wurde die Plattform am 4. März verboten –, WhatsApp und Instagram sind bekannt für ihre strengen Regeln, die Cybermobbing verbieten. Wenn es um Russland und Russen geht, werden aber vorübergehend Ausnahmen gemacht. Facebook hat seinen Nutzern offiziell erlaubt, offen zur Gewalt gegen russische Bürger aufzurufen.

So galt es als normal, sich auf Facebook den „Tod von russischen Invasoren“ zu wünschen. Wegen dieser Ausnahmeregelung leitete Russland ein Strafverfahren gegen Meta (also Facebook) ein, nannte das Unternehmen eine „extremistische Organisation“ und schränkte am 14. März offiziell den Zugang zu Metas Instagram ein, wodurch 80 Millionen Russen der Zugang zum Social-Media-Dienst gekappt wurde. Am 15. März veröffentlichte Meta eine Aktualisierung seines neuen Regelwerks, in dem es heißt, dass das Unternehmen „keine Aufrufe zur Ermordung“ zulässt und dass Gewalt gegen Russen im Allgemeinen nicht toleriert wird. Das Problem ist nur: Die Entscheidung kam etwas spät.

Proteste in Russland nach dem Beginn des Krieges in der Ukraine.
Proteste in Russland nach dem Beginn des Krieges in der Ukraine.Dmitri Lovetsky/AP/dpa

Die Russen denken, dass der Rest der Welt sie hasst

Im Augenblick einer Krise wie der aktuellen ist es nur menschlich, emotional zu reagieren. Wenn ein Land angegriffen wird und seine Bevölkerung systematisch Leid erfährt, wenn Häuser zerstört werden, Kinder sich vor Bombenangriffen in unterirdischen Bunkern verstecken müssen, ist es nur menschlich, sich zu erheben, laut zu werden, um weitere Gräueltaten zu verhindern. Die aktuellen Sanktionen gegen Russland zielen darauf ab, die russische Wirtschaft zu schwächen, so dass keine Ressourcen mehr für die Fortsetzung des Krieges vorhanden sind. Ein weiteres Ziel ist es, die russischen Oligarchen und das einfache Volk gegen den Präsidenten aufzubringen, indem ihnen das Leben unter seiner Herrschaft unerträglich gemacht wird. Möglicherweise können diese Sanktionen zum Erfolg führen. Aber es ist unwahrscheinlich, dass diese Strategie ausgerechnet in Russland funktionieren wird. Und ich verrate Ihnen auch, warum ich dies denke.

Laut Alexander Dubowy, dem Russland-Experten der Berliner Zeitung am Wochenende, liegt der Prozentsatz der Bevölkerung in Russland, die den Krieg befürwortet, bei 71 Prozent. Die Auswertung stützt sich auf Daten des WCIOM vom 2. Februar 2022 (dem Russian Public Opinion Research Center, das allerdings von der russischen Regierung kontrolliert wird). Ich persönlich glaube nicht an diese Zahl, da das WCIOM dafür bekannt ist, Zahlen zu erfinden, wenn es um die Popularität der russischen Regierung geht. Meiner Meinung nach liegt der Prozentsatz der Kriegsbefürworter in Russland bei etwa 65 Prozent (so meine Schätzung), vielleicht sogar weniger, da immer mehr Menschen die negativen Auswirkungen der Wirtschaftssanktionen auf ihr tägliches Leben zu spüren bekommen.

Die Zukunft ist ungewiss

Jeder in Russland spürt die Konsequenzen des Krieges. Selbst diejenigen, die früher Putin als Führer unterstützt haben, beginnen jetzt, an ihm zu zweifeln. Doch an wen wendet man sich in einer Situation, in der man seiner Regierung nicht mehr vertrauen oder sie unterstützen kann und bereit ist, seine Unzufriedenheit zu äußern? Es ist schon schwer genug, sich gegen die eigene Regierung zu stellen, wenn man selbst von Tag zu Tag immer ärmer wird. Aber noch schwieriger ist es, dies zu tun und zu wissen, dass der Rest der Welt einen hasst und sich weigert, diesen Kampf zu unterstützen.

Stattdessen wird Russland, ja, werden alle Russen gecancelt: schnell, gewaltsam und einstimmig. Millionen von Russen werden von der Welt isoliert und mit einem autokratischen System alleine gelassen, das der Rest der Welt zu Recht für böse hält. Im besten Fall helfen die Sanktionen, dieses System irgendwie von innen heraus zu zerstören, indem die Russen ihr Leben für eine Revolution oder einen Bürgerkrieg riskieren.

Was passiert aber, wenn diese Rechnung nicht aufgeht? Da die Russen bereits von der Welt isoliert sind, die eindeutig sagt, dass Russen nicht mehr willkommen sind, müssten sie nun wohl oder übel Wladimir Putin folgen, wohin auch immer er sie zu führen gedenkt. Er wäre nämlich in diesem Szenario der Einzige, der wenigstens offiziell behaupten könnte, sich in einer Zeit der totalen Ablehnung und anti-russischen Stimmung um die Russen zu kümmern. Die Zeit wird zeigen, was davon tatsächlich passiert.

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*Auf Wunsch der Autorin haben wir ihren Namen geändert und sie anonymisiert. Die Autorin fürchtet sich vor Konsequenzen für sich und ihre Familie in Russland.

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